Rund 30 bis 60 Prozent aller hospitalisierten Covid-19-Patienten zeigen neurologische Symptome.

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Das neuartige Coronavirus ist nicht wählerisch: Es befällt nicht nur die Lunge und Atemwege, sondern auch andere Organe wie das Herz oder die Nieren. Mittlerweile ist zudem klar: Auch die grauen Zellen können zu den Opfern des Virus zählen. Im Rahmen einer kürzlich im Fachblatt "Brain" veröffentlichten Studie stießen Forscher um den Neurologen Michael Zandi von den University College London Hospitals bei ihren 43 Patienten auf diverse neurologische Komplikationen: Sie reichten von Gehirnentzündungen und Delirium bis zu Nervenschäden und Schlaganfällen.

"Die Ergebnisse entsprechen durchaus denen aus anderen Studien", sagt Thomas Berger, Vorstand der Universitätsklinik für Neurologie der Med-Uni Wien und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie. "Und sie spiegeln auch unsere eigenen Erfahrungen mit Patienten wider", so Berger.

Grundsätzlich gibt es drei Gruppen von Patienten: die erste umfasst Patienten, die eine schwere Covid-19-Erkrankung haben. Bei ihnen treten im Zuge der den ganzen Körper betreffenden Erkrankung auch neurologische Symptome auf: von milden Symptomen wie Kopfschmerzen über Schwindel bis hin zu schweren Enzephalopathien – Erkrankungen oder Schädigungen des Gehirns, die das Gehirn als Ganzes betreffen. "Letztere sind der systemischen Infektion geschuldet", sagt Berger. Wenn jemand etwa eine Sepsis, eine Blutvergiftung hat, können beispielsweise Gerinnungsstörungen auftreten, die zu Schlaganfällen führen können. "Dabei handelt es sich um die Gruppe, bei der sicherlich die meisten neurologischen Komplikationen auftreten."

Entzündung des Gehirns

Die zweite Gruppe umfasst Patienten, bei denen es durch die Infektion zu einer direkten Entzündung des Gehirns, einer Enzephalitis, kommt. Eine solche Entzündung kann grundsätzlich bei jeder Infektion und so auch bei Sars-CoV-2 auftreten. "Sie ist aber glücklicherweise nur eine Rarität", erklärt Berger. Bei der dritten Gruppe wiederum kommt es einige Wochen nach der Genesung zu einer autoimmunbedingten Erkrankung des Gehirns oder – im Falle des Guillain-Barré-Syndroms – zu einer Erkrankung der peripheren Nerven. "Weltweit gibt es etliche beschriebene Fälle dieses Syndroms, und auch in Österreich gibt es meines Wissens bereits zwei Fälle", sagt Berger.

Der Grund hinter der autoimmunbedingten Erkrankung der Nerven ist eine fatale Verwechslung. Denn das Immunsystem erkennt nicht Sars-CoV-2 selbst, sondern nur eine Art "Visitenkarte", nämlich eine Abfolge von Aminosäuren. Und wenn diese Abfolge zufällig auch in der Myelinschicht vorkommt, die die Nervenzellen ummantelt und isoliert, wendet sich das Immunsystem auch gegen diese Isolierschicht. Das kennen Ärzte bereits von anderen Infektionen.

Unklar ist derzeit noch, ob das Coronavirus direkt über den Riechnerv ins Gehirn eindringen und den Hirnstamm befallen kann. In Regionen des Hirnstamms liegen Zentren für die Regulierung der Atmung und des Blutkreislaufs. Ein Befall des Hirnstamms könnte die schwerwiegenden Atemprobleme und langwierige Beatmung bei einem Teil der Patienten erklären. Das Problem ist allerdings: Autopsien an verstorbenen Covid-19-Patienten, die den Weg des Virus ins Gehirn nachzeichnen, sind bislang Mangelware.

80 Prozent der Fälle

Große Fragezeichen gibt es bislang auch bei den genauen Zahlen zu den neurologischen Komplikationen. Raimund Helbok, Neurologe an der Med-Uni Innsbruck, war bereits zu Beginn der Pandemie in Tirol in die Behandlung von Patienten eingebunden und konnte schon früh neurologische Komplikationen erfassen. Heute sagt er mit Blick auf die bislang weltweit verfügbaren Zahlen: "Neurologische Komplikationen wurden bei bis zu 80 Prozent der Patienten mit Covid-19-Erkrankungen beschrieben."

In einer Umfrage unter mehr als 2.300 Mitgliedern der Europäischen Gesellschaft für Neurologie (EAN) konnten Helbok und Kollegen kürzlich zeigen, dass Neurologen häufig an der Betreuung von Covid-19-Patienten beteiligt sind. In der Umfrage wurden neurologische Symptome wie Kopfschmerzen (61,9 Prozent), Muskelschmerzen (50,4 Prozent), Störungen des Geruchs- und/oder Geschmackssinns (etwa 40 Prozent) genannt – sowie bei schweren Verläufen das Auftreten von Bewusstseinsstörungen und Erkrankungen der Blutgefäße des Gehirns. Diese Zahlen zur Häufigkeit seien jedoch mit Vorsicht zu genießen, so Helbok. Denn die Zahlen hängen auch davon ab, welche Patientengruppen – werden sie ambulant behandelt, stationär auf der Normalstation oder der Intensivstation – man untersucht.

Thomas Berger geht davon aus, dass bei 30 bis 60 Prozent aller Covid-19-Fälle im Krankenhaus unterschiedliche neurologische Symptome auftreten. "Dabei sind die schweren neurologischen Erkrankungen weniger häufig." Bei vielleicht rund drei bis fünf Prozent der hospitalisierten Patienten komme es etwa zu Schlaganfällen.

Kein Grund zur Panikmache

Dass hingegen jemand mit einer schweren Infektion wie Sars-Cov-2 unter Kopfschmerzen, Apathie und Verwirrung leide, sei naheliegend. "Es gibt also keinen Grund zur Panikmache", beruhigt er. "Nicht jeder, der einen Schnupfen hat, muss Angst haben, eine Gehirnentzündung zu bekommen." Aber von neurologischer Seite sei auf jeden Fall eine gewisse erhöhte Aufmerksamkeit nicht nur während des Krankenhausaufenthalts, sondern auch in der Nachfolge vonnöten. Angesichts der Häufigkeit von neurologischen Symptomen und Komplikationen rät Berger, Neurologen in die entsprechenden Berater- und Expertengremien aufzunehmen.

An der Medizinischen Universität in Innsbruck nimmt man die neurologischen Komplikationen sehr ernst. Aktuell werden dort Covid-19-Patienten im Rahmen einer klinischen Studie drei Monate nach Diagnosestellung auf neurologische Symptome hin untersucht. "Hierbei geht es auch um die Erfassung der Lebensqualität, da das Auftreten von neurologischen Symptomen und die Erkrankung selbst zu einer erheblichen Beeinträchtigung des alltäglichen Lebens führen kann, so Raimund Helbok. Die Daten müssen aber erst noch ausgewertet werden. (Christian Wolf, 22.7.2020)