"Du lebst noch, stress dich jetzt nicht", sagt Tauchlehrer Christian Redl, während eine von uns bäuchlings auf dem Neufelder See treibt. Sie ist bereits seit zwei Minuten unter Wasser, eine kleine Ewigkeit. Und gibt Handzeichen, dass alles okay ist. 40 weitere Sekunden hält sie durch, bevor sie auftaucht, ein paar kräftige Atemzüge nimmt und übers ganze Gesicht strahlt. Persönlicher Rekord! Wer hätte das gedacht: ohne Vorkenntnisse zwei Minuten und 40 Sekunden abzutauchen, und das schon nach dem vierten Versuch. "Für viele ist das ein enormer Selbstbewusstseinsschub", sagt Redl: "Ich habe schon Leute weinen sehen."

Mit sechs Jahren stand Redl schon an diesem Ufer, an dem er heute Kurse für Menschen gibt, die tauchen wollen ohne lästige Geräte. Er hatte zu Weihnachten von seinem Onkel Flossen und Taucherbrille geschenkt bekommen. Und verbrachte fortan jede freie Minute im Wasser.

Mit zehn begann er im Pool seiner Eltern mit Flasche zu tauchen, mit 17 sah er den Apnoe-Film Im Rausch der Tiefe – und wusste: Das möchte ich auch können. Er erinnert sich, dass er als Teenager keine Bücher über diese Art des Tauchens kannte. Dass er anfangs auch alles falsch gemacht und hyperventiliert hat, was das Gefährlichste ist, das man beim Tauchen machen kann. Es führt zum Absinken des Kohlendioxidgehalts im Blut. Man wird schlagartig bewusstlos, weil der Körper den Sauerstoffmangel nicht kommuniziert.

Christian Redl lehrt auch das Luftanhalten unter Wasser.
Foto: Karin Cerny

In den Bauch atmen

"Es gibt beim Freitauchen nur ein Geheimnis", bläut Redl seinen Schülerinnen und Schülern ein, die auf der Wiese liegen und lernen, ruhig in den Bauch zu atmen: "Entspannung. Ich garantiere euch, in einer Stunde werdet ihr doppelt so gut sein. Es gibt keinen Sport, bei dem man so schnell Erfolge erzielen kann. Beim Freitauchen ist es völlig egal, ob man fit ist oder nicht, ob man jung oder alt, dick oder dünn ist."

Redl ist ein relaxter Typ, wie dafür gemacht zu unterrichten. Er weiß, wie man den Leuten die Angst nimmt, ein Schmäh zwischendurch schadet nicht. "Ich bin Warmduscher. Mir ist dieser See viel zu kalt, um ohne Neoprenanzug reinzugehen", bekennt ausgerechnet Redl, der zahlreiche Weltrekorde im Tauchen unter Eis aufgestellt hat. Als er mit dem Tauchen anfing, arbeitete er noch in einer Bank. Im Winter war es für ihn leichter, freizubekommen.

Was ihn am Eistauchen besonders interessiert? Vor allem die mentale Herausforderung, dass man unter Eis nicht auftauchen kann. Viermal ist Redl selbst ohnmächtig geworden bei dem Versuch, Rekorde zu brechen, zuletzt diesen Februar im eiskalten Weißensee. Er tauchte wie geplant in eine Tiefe von 71 Meter, beim Auftauchen gab es Komplikationen.

Was passiert im Kopf, bevor man in Ohnmacht fällt? "Einmal bin ich über eine grüne Wiese gelaufen", sagt der Extremtaucher, der beim Unterrichten allerdings für die Breitenwirksamkeit dieses Sports eine Lanze brechen möchte. "Die Leute sehen immer die Rekorde, Versuche, bei denen man an seine Grenzen und darüber hinaus geht. Dabei ist Freitauchen ein deppensicherer Sport, wenn man ihn richtig praktiziert. Die meiste Zeit macht es einfach Spaß, mit Fischen unterwegs zu sein. Schon zwei Minuten kommen einem unter Wasser extrem lange vor."

Übungsterrain im Süden

Viele Wienerinnen und Wiener pilgern im Sommer an den Neufelder See, der 50 Kilometer südlich der Hauptstadt liegt. Der See ist sowohl für Taucher mit Geräten als auch für Freitaucher ein ideales Übungsterrain.

Die Motivation der Kursteilnehmer ist höchst unterschiedlich. Michi hat vor Jahren schon einmal einen Kurs gemacht, er wird am Ende des Tages stolze vier Minuten und 27 Sekunden unter Wasser bleiben. Tom und Angela sind von den legendären japanischen Omas begeistert, 80-Jährige, die ohne Atemgerät nach Schnecken bis in 20 Meter Tiefe tauchen. Theresa und Stefan machen Yoga und haben bereits mit einer App daheim geübt, den Atem anzuhalten. Hans-Peter wollte mit 60 in den Ruhestand gehen, um mit seinem Segelschiff über die Weltmeere zu schippern. Das Coronavirus ist ihm dazwischengekommen, jetzt steigt er bereits mit 58 aus. Und ist überzeugt, dass er diese Technik auf dem Schiff gut brauchen kann, wenn sich etwa der Anker verheddert.

Apnoe ist die älteste und ursprünglichste Form des Tauchens. Das Freitauchen liegt auch deshalb im Trend, weil man zum Natürlichen zurückzukehren möchte und davon fasziniert ist, ohne Geräte die Schönheit der Unterwasserwelt zu erkunden. Es gibt wenige Regeln. Eine der wichtigsten: nie allein üben. Es muss immer jemand dabei sein, der überprüft, ob man in Ordnung ist.

"90 Prozent spielen sich in deinem Kopf ab: warum du auftauchst und nicht ruhig bleibst", sagt Redl, der vorher genau erklärt, was ab einem gewissen Zeitpunkt körperlich zu erwarten ist: "Wenn der Atemreiz einsetzt, beginnt das Zwerchfell zu zucken. Ihr müsst den Krampf ignorieren."

Sich 50 Kilometer von Wien entfernt auf dem Wasser treiben lassen und die Luft anhalten kann dem Selbstbewusstsein guttun.
Foto: Karin Cerny

Schon für Schwimmer ist es einigermaßen ungewohnt, unter Wasser nicht auszuatmen. "Wir geben von unserer Luft nichts her", hat man die Stimme von Redl noch im Kopf, der auch einen kleinen Trick verraten hat: Wer den Impuls verspürt, ausatmen zu müssen, macht einfach eine Schluckbewegung. Das funktioniert blendend und beruhigt zudem.

Die Zeit vergeht unter Wasser langsam. Durchs konzentrierte Bauchatmen hat man sich in eine entspannte Stimmung versetzt, jetzt geht es darum, herauszufinden, was am besten hilft, nicht nervös zu werden. "Ein negativer Gedanke verbraucht mehr Sauerstoff als ein positiver", schärft uns Redl ein. Manche schließen die Augen, andere beobachten die Fische, andere singen im Kopf ein Lied. Atemlos von Helene Fischer würde sich anbieten, scherzt Redl.

Wann das Zucken im Zwerchfell einsetzt, ist individuell unterschiedlich, man kann den Zeitpunkt hinauszögern, je mehr man übt. Ein komisches Gefühl ist es schon. Gleichzeitig merkt man, dass nicht der Körper der Feind ist: Der Schweinehund sitzt im Kopf, der möchte zurück in seine Komfortzone über Wasser. Er überlegt sich fiese Tricks, um uns zum Atmen zu überreden. Okay, dann halt an Helene Fischer denken: Atemlos, einfach frei!

Am Ende, wenn man glaubt, jetzt geht gar nichts mehr, die Beine auf den Boden stellen, den Kopf unter Wasser lassen und mit den Fingern Übungen machen, als tippe man einen Text. Das lenkt ab. Und bringt mitunter noch einmal 30 bis 40 Sekunden.

Manche haben in ihrer Kindheit ein Trauma im Wasser erlebt, erzählt Redl. Ein Schüler ist immer nach exakt 42 Sekunden aufgetaucht. Es ging darum, diese magische Schranke zu durchbrechen und 43 Sekunden auszuharren. Danach ist seine Zeit schnurstracks auf über zwei Minuten gestiegen. Manchmal seien seine Kurse wie eine Therapiesitzung, sagt Redl. Er ist überzeugt, dass man jede Angst lösen könne

Keine neuen Rekorde

Insgesamt neun Weltrekorde in alternativen Disziplinen hat Redl (44) bisher aufgestellt. Drei davon hält er noch. 2006 legte er in einer Höhle in Mexiko 101 Meter zurück, ein Jahr später tauchte er ebenfalls in einer mexikanischen Höhle 60 Meter in die Tiefe. 2010 legte er als erster Mensch mithilfe von Flossen eine Strecke von 100 Metern unter einer geschlossenen Eisdecke zurück. 2012 absolvierte er im Himalaya den höchstgelegenen Freitauchgang (auf 5.160 Metern). Die Ärzte hatten ihm zuvor erklärt, es sei verrückt, in dieser Höhe zu tauchen, er werde sterben. "Ich war überzeugt, dass es geht, und habe meinen Körper der Forschung zur Verfügung gestellt."

Seinen gescheiterten Eistauchversuch im Weißensee möchte er wiederholen, sonst plant er, es in Zukunft etwas ruhiger anzugehen. Nicht egoistisch Rekorde aufzustellen sei sein Ziel, beteuert er. Er wolle die Ozeane retten. Dazu gehört auch sein Projekt 7Oceans, ein Film, der auf allen sieben Weltmeeren gedreht wird. "Jeder zweite Atemzug, den wir nehmen, kommt aus dem Meer", sagt Redl, bevor er uns darauf vorbereitet, was am nächsten Tag auf uns zukommt: 15 Meter in die Tiefe tauchen.

Jetzt nur nicht hyperventilieren. (Karin Cerny, 22.7.2020)