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Foto: afp / MUNIR UZ ZAMAN

Zig, ja hunderte Millionen Klimaflüchtlinge in den nächsten Jahrzehnten: Dass durch den Klimawandel viele Menschen vor Dürren, Fluten und Unwettern ins Ausland fliehen, wird oft als gegeben angenommen. Kein Wunder, haben das doch NGOs, Politiker, Medien, die UNEP, das Umweltprogramm der Vereinten Nationen, und einige Wissenschafter breitgetreten. Dabei gibt es dafür keine wissenschaftliche Basis. So könnte die Migration aus Afrika nach Europa durch den Klimawandel sogar sinken. Aber wie kann das sein?

Bangladeschs Hauptstadt Dhaka: überflutet.
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Fangen wir mit einer Spurensuche an. Woher kommen diese Zahlen überhaupt? Die mit Abstand häufigste Quelle dieser Aussagen ist eine Studie des Ökologen Norman Myers von der Oxford University aus dem Jahr 1995. Die Daten- und Studienlage war damals noch sehr schlecht, die Studie war ein erstes Abtasten, das von vielen Forscherinnen und Forschern später stark kritisiert wurde. So hat Myers einfach zusammengerechnet, wie viele Menschen vom steigenden Meeresspiegel oder der Ausbreitung von Wüsten betroffen sind, und sie alle als Klimaflüchtlinge gezählt. Ergebnis: 200 Millionen bis 2050.

Heute gibt es viel bessere Studien. Der Weltklimarat IPCC, der die Studienlage zum Thema 2018 zusammengefasst hat, kommt etwa zum Schluss: Steigt der Meeresspiegel bis 2100 um einen halben Meter, könnten 72 Millionen Menschen verdrängt werden. Steigt er um zwei Meter, sogar 187 Millionen. Rechnet man aber mit ein, dass viel Zeit für Anpassung bleibt, um etwa Dämme wie in den Niederlanden zu bauen, dürften im extremeren Szenario nur etwa 0,5 Millionen Menschen verdrängt werden.

Ein ähnliches Muster

Allgemein ist die Annahme, dass Umweltprobleme automatisch zu Migration führen, viel zu vereinfachend. In Bangladesch ziehen die Menschen sogar massiv in Gebiete, die stärker von Fluten betroffen sind, sagt der Forscher Hein de Haas von der Universität Amsterdam. Dort gebe es Jobs. Aber nicht nur die Studie von Myers, auch andere zum Thema schlugen einen ähnlich alarmistischen Ton an. François Gemenne von der Sciences Po schreibt, die würden meist ähnlich aufgefasst: von Medien und NGOs mit großem Interesse, von der Wissenschaft mit großer Skepsis. Viele gingen nie durch eine Begutachtung.

Diese großen Aussagen über Massenmigration schaffen es aber trotzdem in die Medien. Nicht nur, weil sie Klicks bringen, sondern auch, weil eine veraltete Annahme den Diskurs über Migration dominiert. Nämlich dass vor allem Not und Elend zu Migration führen. Dabei ist es so, schreibt der Migrationsexperte Hein de Haas, dass vor allem die Nachfrage nach Arbeitskräften und die ökonomische Entwicklung von Ländern Migration antreibt. Erst wenn Menschen in einem Land einen gewissen Wohlstand entwickeln, wird Migration zum Thema: Weiter wegzuziehen braucht Ressourcen, in der Geldbörse, aber auch im Kopf.

Migration als Anpassung

Indem der Klimawandel durch Trockenheit die Lebensgrundlage vieler armer Bauern weiter beschneidet, könnte er Migration sogar senken. Eine Studie legt etwa nahe, dass Dürren die Migration in Malawi gesenkt haben. In Burkina Faso ist sie gestiegen, aber nur über kürzere Distanzen. Über fernere, nach Côte d'Ivoire, ist sie gesunken. "Es ist durchaus möglich, dass es der Klimawandel Menschen in afrikanischen Ländern schwerer macht, sich anzupassen. Und eine der wichtigsten Anpassungsstrategien wäre die Migration", sagt Raya Muttarak vom Forschungszentrum IIASA.

Der Effekt von Umwelt auf Migration ist also nicht eindeutig. Aber was ist mit Syrien? Der Bürgerkrieg dort wurde oft als Beispiel dafür angeführt, zu welchem Migrationsdruck der Klimawandel führen wird. Tatsächlich gab es in den Jahren vor dem Ausbruch eine jahrelange Dürre. Ob daran aber der Klimawandel schuld ist, ist umstritten, genauso, ob die Dürre Anteil am Krieg hat. Überblicksarbeiten zum Thema Klimawandel und Konflikte zeigen aber trotzdem einen deutlichen Zusammenhang.

Die Migrationsforscherin Muttarak hat in einer Studie statistisch untersucht, ob der Klimawandel zwischen 2006 und 2015 zu mehr Asylanträgen geführt hat. Ausschließlich für die Länder des Arabischen Frühlings konnte das vor allem für 2010 bis 2012 nachgewiesen werden. Der Klimawandel dürfte nicht die Zahl der Asylanträge generell erhöhen, heißt es in der Studie – sondern nur in Ländern, die sich politisch wandeln und wo Konflikt ein Ausdruck der Unzufriedenheit über die politische Reaktion auf Klimaeffekte ist.

Es kommt darauf an

Fest steht, dass die massiven Probleme, die der Klimawandel herbeiführt, Migrationsmuster verändern werden. Forscherinnen und Forscher sagen, Migration sei für Menschen meist die letzte Antwort auf ein Problem. Auch wenn sie nicht migrieren, macht der Klimawandel das Leben schwerer. Wenn migriert wird, dann meist lokal, in das nächste Dorf oder eher in die nächste Stadt, wenn das Klima die Landwirtschaft schwieriger macht. Und: Viele Studien zeigen, dass es vom Kontext abhängt, wie das Klima die Migration verändert.

Eine unbefriedigende Antwort, nicht nur für Journalisten, auch für Wissenschafter. "Wir sollten in der Lage sein, die Frage zu beantworten, ob der Klimawandel die Migration erhöht", sagt Muttarak. In einer noch nicht veröffentlichten Studie hat sie mit einer Reihe an Forschern also versucht, eine Vielzahl an Studien einzuordnen. Das Ergebnis? Unter dem Strich legt die jetzige Literatur nahe, dass der Kimawandel die Migration minimal erhöhen dürfte, "es ist ein sehr, sehr kleiner Effekt, der nicht zu Millionen Migranten führen würde".

Sehr viel Unsicherheit

Genau abschätzen lässt sich das Ganze aber sowieso nicht. Viele Studien arbeiten mit den Paris-Zielen von 1,5 oder zwei Grad Erwärmung als Annahme. Was aber, wenn es drei oder vier werden, was absolut im Bereich des Möglichen liegt? Der Klimaökonom Gernot Wagner sagt, dass die Wahrscheinlichkeit von sogar plus sechs Grad bei mehr als zehn Prozent liegt. "Mit sechs Grad würden wir alle sterben, dann brauchen wir auch nicht mehr über Effekte des Klimawandel auf die Migration sprechen", sagt Muttarak leicht sarkastisch.

So oder so, um für Klimapolitik zu sein, braucht es nicht das Schreckgespenst, dass mehr Migranten nach Wien, Berlin oder Stockholm kommen. Da reichen schon extremes Wetter, Dürren, Hitzetote, Hochwasser und Fluten, die Überschreitung von Kipppunkten im Erdsystem, das Artensterben und die Zerstörung ganzer Ökosysteme.

Wenn Ihnen der Beitrag gefallen hat, melden Sie sich für den Newsletter an. Ich schreibe Ihnen, wenn im Rahmen der Serie ein neuer erscheint. (Andreas Sator, 26.7.2020)