Das Video, das am Wochenende in sozialen Netzwerken in Mexiko die Runde machte, ist eine Kriegserklärung: Langsam fährt die Kamera einen Feldweg entlang an einem Autokonvoi vorbei. Vor 19 gepanzerten und in Tarnfarben gestrichenen Vehikeln bauen sich schwer bewaffnete und vermummte Männer in schusssicheren Westen auf, schießen in die Luft und skandieren: "Wir sind die Leute von Mencho."

Sie gehören zum Kartell Jalisco Nueva Generación (CJNG) unter der Führung von Nemesio Oseguera alias "El Mencho", das sich anschickt, die Vorherrschaft in der mexikanischen Verbrecherwelt zu erobern. Und es schreckt dabei vor nichts zurück.

Fahndungsfoto von Nemesio Oseguera alias "El Mencho", der das CJNG-Kartell in Mexiko anführt.
Foto: imago images/ZUMA Wire

Das von desertierten Elitesoldaten trainierte Kartell gilt als besonders blutrünstig und skrupellos: Vor einigen Tagen ermordete ein Killerkommando einen unliebsamen Richter. Dieser hatte die Verlegung von Menchito, Sohn des CJNG-Chefs, in ein Hochsicherheitsgefängnis angeordnet. Wenige Tage später geriet der Sicherheitsbeauftragte der Hauptstadt mitten im Botschafterviertel ins Kreuzfeuer. Zwei Dutzend Killer und eine Barrett-Panzerfaust waren dabei im Einsatz. Omar García Harfuch überlebte nur, weil sein Dienstwagen mit höchsten Sicherheitsvorkehrungen gepanzert war. Die Attacke war ersten Ermittlungen zufolge ein Racheakt, weil García Harfuch Versuche des Kartells durchkreuzt hatte, sich in der Hauptstadt zu etablieren.

Ölpipelines als Ziel

Auch andere Regionen geraten ins Visier. Der Gouverneur des Bundesstaates Jalisco erhielt Morddrohungen. Die Offensive des Kartells, das von der US-Antidrogenbehörde DEA als eine der fünf gefährlichsten Mafiagruppen weltweit eingestuft wird, richtet sich vor allem gegen die Bundesstaaten Puebla und Guanajuato – zwei einst friedliche Touristenziele. Beide sind nicht nur wichtige Verkehrs- und Kommerzknotenpunkte, dort liegen auch zahlreiche Ölpipelines. Diese anzuzapfen, um Benzin auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, ist lukrativ.

In Guanajuato macht CJNG dem lokalen Kartell Santa Rosa de Lima den Markt streitig, in Puebla sind es Splittergruppen der Zetas. Mit Schwarzbenzin bedient man in Zeiten der Pandemie einen lokalen Markt ohne die aufwendige, teure und riskante Transit- und Exportlogistik, die für den Drogenschmuggel notwendig ist.

Das CJNG hat sich auf synthetische Drogen spezialisiert, deren Vorläuferchemikalien aus China kommen und deren Lieferungen durch Corona unterbrochen wurden. Dem Siegeszug des CJNG zuträglich war der Niedergang des Sinaloa-Kartells.

Nachfolgekampf

Dessen langjähriger Kopf, Joaquín "El Chapo" Guzmán wurde in den USA zu lebenslanger Haft verurteilt; seine Söhne streiten sich nun mit Ex-Geschäftspartnern um Routen und Anteile. In den vergangenen Monaten hatte das Kartell Rückschläge zu verkraften: Mit Drogen beladene Kleinflugzeuge wurden dank der von der DEA hochgerüsteten Radare schon beim Start in Venezuela geortet und im Süden Mexikos von der Luftwaffe zu Notlandungen gezwungen.

Während die Spezialität des Sinaloa-Kartells die Kooptation von Staatsdienern ist, sucht CJNG stärker die militärische Konfrontation mit Rivalen und Sicherheitskräften. Die Regierung hat bislang keine Antwort auf diese Herausforderung. Sicherheitsminister Alfonso Durazo erklärte jüngst, die vom Kartell ins Netz gestellten Videos seien "Montage" und "Propaganda". Keine bewaffnete Gruppe sei in der Lage, dem Staat Paroli zu bieten.

Die offizielle Sicherheitsstrategie aber ist konfus. Präsident Andrés Manuel López Obrador traf sich zu Beginn der Corona-Pandemie mit Chapos Mutter zu einem Umtrunk auf einer Landstraße. Er hatte im Wahlkampf "Küsse statt Schüsse" versprochen. Unlängst stoppte er die Festnahme eines El-Chapo-Sohnes.

Elitetruppe mit neuem Fokus

Gleichzeitig fror die Einheit zur Bekämpfung von Geldwäsche 1900 Konten des CJNG ein, und eine Art Militärpolizei wurde aufgebaut. Eingesetzt wird die Elitetruppe nun aber aufgrund des Drucks von US-Präsident Donald Trump hauptsächlich zur Festnahme von Migranten. Die Streitkräfte wurden vom Präsidenten in ein Wiederaufforstungsprogramm, in die Kontrolle von Pipelines, die Zollüberwachung und in den Bau eines Flughafens involviert.

Die Gewalt geht in der Zwischenzeit ungebremst weiter. Bis Ende Mai wurden mehr als 14.000 Menschen ermordet; 2019 war das bislang mörderischste Jahr mit 34.582 Toten. "Dies ist der Preis für Jahrzehnte der Straflosigkeit", sagt Falko Ernst von dem auf Sicherheitsfragen spezialisierten Thinktank Crisis Group.

Nur fünf Prozent aller Straftaten enden in Mexiko mit einer Verurteilung. Der Justiz- und Sicherheitsapparat strotzt einer Erhebung des World Justice Projekts zufolge vor institutionellen Blockaden und ineffizienten Ermittlern. Erschwerend kommt die Wirtschaftskrise hinzu: Zwischen März und Juni haben über eine Million Mexikaner ihren Job verloren. "Das macht besonders junge Menschen anfällig für die Anwerbeversuche der Kartelle", warnt Raúl Sapíen, Präsident des Rats für Private Sicherheit. (Sandra Weiss, 23.7.2020)