Bewaffnetes Personal vor dem Innen- und Gesundheitsministerium in Gaza in Zeiten der Corona-Pandemie.
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Nach der Aufregung rund um eine mögliche Annexion von Teilen des Westjordanlandes durch Israel ist es in dieser emotional aufgeladenen Frage dem Anschein nach ruhig geworden – aber nur an der Oberfläche. Die Auswirkungen des Annexionsgetöses, das die Palästinenserbehörde zum Abbruch der Beziehungen mit Israel veranlasste, sind in den Palästinensergebieten Tag für Tag spürbar. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtet von "enormen Schwierigkeiten, humanitäre Hilfe zu organisieren".

Die Palästinenserbehörde hatte bereits Ende Mai alle Kooperation beendet. Es war ein Akt des Protests, von dem anfangs niemand wusste, wie weit er gehen würde. Die Fatah-Regierung meinte es offenbar ernst: Allen, die in Verwaltung, Exekutive oder Politik tätig sind, ist ein Kontakt mit israelischen Gegenparts untersagt. Dringend benötigte Lieferungen wie etwa Testkits oder Beatmungsgeräte hängen am Flughafen Tel Aviv fest, weil das bisherige Prozedere zur Zollabwicklung nicht mehr intakt ist.

Auf elf Lieferungen könne man nicht zugreifen, sagt Gerald Rockenschaub, Leiter des WHO-Büros für die palästinensischen Gebiete, im STANDARD-Gespräch. Auch in Jordanien steckten Pakete fest, die nicht überstellt werden können.

Fatal auch für Krebspatienten

Besonders dramatisch sind die Folgen für schwer Kranke aus dem abgeriegelten Gazastreifen, die etwa auf Chemotherapien in Spitälern im Westjordanland angewiesen sind. Schon vor Abbruch des Kooperationsabkommens war es schwierig, den Transport zu organisieren und Genehmigungen von Israel zu erhalten. Die Corona-Pandemie bewirkte, dass viele Patienten erst einmal abwarteten und Behandlungen auf einen späteren Zeitpunkt verschoben – auch weil die Hamas-Regierung in Gaza schon bald eine konsequente Drei-Wochen-Quarantäne nach Einreise verhängte.

Ein Rückstau an Überweisungspatienten war die Folge, den man nach dem Abflauen der ersten Covid-19-Welle abzubauen hoffte – laut Rockenschaub waren rund 1500 Patienten pro Monat betroffen.

Dann kam jedoch das jähe Ende der Kooperation, und die von Israel vermittelte Überstellung ins Westjordanland konnte nicht mehr stattfinden.Derzeit stecken die palästinensischen Gebiete, wie auch Israel, in der zweiten Welle. Die Corona-Fälle explodieren: Vor einem Monat, also rund vier Monate nach Beginn der ersten Welle, lag die Summe der bestätigten Fälle im Westjordanland bei rund 830 Infizierten.

Mittwochvormittag zählte man im Westjordanland bereits knapp 10.850 Fälle, und allein in den 24 Stunden davor waren rund 400 neue Fälle dazugekommen.

210-Millionen-Euro-Kredit

Während der ersten Welle hatte es einen verstärkten Austausch zwischen Israel und den Palästinensergebieten gegeben, der auch medizinisches Personal umfasst hatte. Zudem gewährte Israel den Palästinensern im Mai einen 210-Millionen-Euro-Kredit, zum Ausgleich für die krisenbedingt eingebrochenen Einnahmen aus Zöllen, die Israel für bestimmte Produkte bei ihrem Einlangen in israelischen Häfen einhebt und in der Folge an die Palästinenser ausbezahlt.

Jetzt bleiben diese Zolleinnahmen hingegen zur Gänze aus, da die Fatah-Regierung sie von Israel nicht mehr annehmen will. Das Geld fehlt auch in den Spitälern, Gehalt für Krankenhauspersonal könne nicht mehr bezahlt werden. Das alles kommt noch dazu in jener Phase, in der die USA ihre Gelder an WHO und das Palästinenserhilfswerk eingefroren haben. "Internationale Spender konnten das nur zum Teil wettmachen", sagt Dana Stroul vom Washingtoner Institut für Nahostpolitik in einem Online-Briefing. "Das Gesundheitssystem in den Palästinensergebieten war schon geschwächt, bevor die Covid-Epidemie kam", sagt Stroul.

Die Krise veranlasste am Dienstag auch Nickolay Mladenov, UN-Sonderkoordinator für den Nahost-Friedensprozess, zu einem Plädoyer an beide Seiten, eine Lösung zu suchen. Das Einfrieren der diplomatischen Beziehungen sei angesichts der explodierenden Infektionszahlen nicht nur für die Palästinensergebiete, sondern auch für Israel eine Gefahr.(Maria Sterkl aus Tel Aviv, 22.7.2020)