Am meisten vermisst die 95-jährige Anne während der langen Monate des Corona-Lockdowns die Gesellschaft ihrer vor kurzem verstorbenen Katzen. Sie lebt alleine in ihrer Wohnung in New York City und verlässt das Haus kaum. Trotz der Isolation der Krise hat sie sich ihre positive Lebenseinstellung und gesprächige Geselligkeit bewahrt. Nur die junge Frau, die Anne im Haushalt half, verließ sie einfach mitten in der Krise. „Sie hat einen Rappel bekommen. Sie schuldet mir noch Geld“, meint Anne in fließendem Deutsch tief enttäuscht und wütend. Zeit ihres Lebens engagierte sie sich für Flüchtlinge und besonders in der gegenwärtigen Krise lassen ihr die Sorgen um andere keine Ruhe. Arme Kinder, aus bildungsfernen Haushalten oder Flüchtlingsfamilien, die seit Monaten keine Schule besuchen können, sind ihrer Meinung nach am stärksten vom Lockdown betroffen, haben ihren sozialen Halt und Schutz verloren.

Anne in ihrer Wohnung in Manhattan.
Foto: Stella Schuhmacher

Muslim ban und Dampfer St. Louis

Im Jänner 2017 wurde in der USA über Nacht ein Einreiseverbot für Muslime verhängt, Reisende saßen auf Flughäfen fest oder mussten umkehren. Die ehemalige Wienerin erinnerte sich verstört an die Vergangenheit: „Ich habe mich mit großer Trauer an die St. Louis erinnert, die Deutschland mit vielen Juden an Bord verlassen hat und umkehren musste.“ Von den Passagieren des Dampfers, dem 1939 sowohl in Kuba, der USA als auch in Kanada das Anlegen verweigert wurde, verloren ein Drittel nach der Rückkehr nach Europa ihr Leben. Berichte über Flüchtlingsschiffe im Mittelmeer, denen ein sicherer Hafen verwehrt wird, erschüttern Anne ebenfalls zutiefst. Sie selbst wurde 1939 durch einen Kindertransport gerettet, bis heute ist sie der britischen Bevölkerung und Regierung für deren Hilfsbereitschaft dankbar.

„In den 30er-Jahren hat sich niemand in der amerikanischen Regierung für uns Juden eingesetzt. Heute rufen wir öffentlich unsere Regierung dazu auf, Flüchtlinge mit mehr Mitgefühl zu behandeln. Wir tragen die Verantwortung, uns um andere zu kümmern. Wir sind nur am Leben, weil damals jemand gesagt hat, dass man uns retten muss. Es ist mindestens so wichtig, sich noch mehr für Angehörige anderer Religionsgruppen als der eigenen einzusetzen.“ Gemeinsam mit Mitgliedern der ‚Kindertransport Association‘, einer Vereinigung von durch die Kindertransporte Geretteten und deren Familienangehörigen, demonstrierte Anne gegen den muslim ban und schickte einen Protestbrief an Präsident Trump.

Fluchtversuche aus Wien

Anne wurde 1925 in Wien geboren und wuchs im 7. Bezirk in einer jüdischen Mittelklassefamilie „in einem gutbürgerlichen Umfeld“ auf. "Wir hatten einen Weihnachtsbaum mit Davidstern oben drauf als ich aufwuchs." Wien veränderte sich nach dem Anschluss von einem Tag auf den nächsten. „Das Wien, in dem man als gut erzogenes Kind die Straße überquerte, um jemandem zu helfen, hörte auf zu existieren. Der Antisemitismus der Wiener war spürbar stärker als der in Berlin.“ Anne führt das darauf zurück, dass Wien eine Durch- und Zuzugsstadt war, in der sich viele Juden aus dem Osten niedergelassen hatten, was auf den Widerstand der örtlichen Bevölkerung stieß.

Anne (erste Reihe links) mit Familienmitgliedern in Schoenbrunn.
Foto: Stella Schuhmacher

Antisemitische und demütigende Zwischenfälle waren an der Tagesordnung, viele sind für Anne noch immer schmerzhaft nahe. „Jeden Tag fehlte ein Kind in der Schule, entweder war es ausgewandert oder der Vater hatte Selbstmord begangen, war aus dem Fenster gesprungen. Wir hofften immer, dass sie nicht mehr in die Schule kamen, weil sie auswandern konnten. Aber dann hörte man wieder, dass jemand gestorben war.”

Die Auswanderungsversuche wurden verzweifelter. „Wir gingen zur amerikanischen Botschaft und begannen, zahllose Briefe an unbekannte Amerikaner zu verschicken und sie um Affidavits zu bitten. Die Warteschlangen vor der Botschaft reichten um den ganzen Block. Das Verschicken dieser Briefe war sehr teuer.“ Zwei Antworten erhielt Anne auf ihre zahlreichen Briefe: „Are you mad to write to us?“. Und “We have a terrible depression and not enough food to eat ourselves”.

Nachdem Annes fünf Jahre ältere Schwester bereits als Dienstmädchen nach Großbritannien ausgewandert war, wurde Anne im März 1939 als Vierzehnjährige mit einem Kindertransport auch dorthin geschickt. Anne war unglücklich, denn sie wollte Wien und ihre Eltern nicht verlassen. Über das Schicksal ihrer in Wien zurückgebliebenen Eltern weiß sie lediglich, dass diese für einige Zeit im Ghetto Izbica gefangen gehalten wurden. Wo sie schlussendlich ermordet wurden, hat sie nie erfahren. Fotos, Briefe und Erinnerungsstücke an sie gingen in den Wirren der Nachkriegszeit verloren. "Vor kurzem hat man mir gesagt, dass man Stolpersteine für meine Eltern machen will. Aber ich finde, man ist genug in ihrem Leben auf sie getreten. Ich will nicht, dass jeder noch weiter auf sie draufsteigt“. Auf die Shoah-Gedenkmauer in Wien, die gerade errichtet wird, freut sie sich.  

Anne wurde in einer Boarding School untergebracht, in der sie als „enemy alien“ galt und mit Misstrauen und Ablehnung von den Mitschülerinnen konfrontiert war. Hakenkreuze wurden an ihre Türe geschmiert. Nach ihrem 16. Geburtstag wollte die Polizei sie sogar aus der Schule entfernen, da sie Bedenken hatte, dass sie als Erwachsene dem Feind geheime Informationen zukommen lassen würde. Die Erfahrung hat tiefe schmerzhafte Spuren hinterlassen: "Es ist, als ginge ich zum Galgen, jedesmal wenn ich einen Koffer packe. Es befällt mich ein beklemmendes Todesgefühl." 

Anne, ihre Cousine und Annes Schwester Evy Renate Kelemen (von links).
Foto: Stella Schuhmacher

Erinnerungen ans Konzentrationslager – Aufstapeln von Leichen

Als 16-Jährige zog Anne nach London und arbeitete als Freiwillige in einer Unterkunft für Jugendliche. Sie wurde mit der Betreuung von Jungen beauftragt, die Aufenthalte in Konzentrationslagern überlebt hatten. „Das war das erste Mal, dass ich erfuhr, was tatsächlich in Konzentrationslagern geschah, was diese Kinder tun mussten, um zu überleben.“

„Am ersten Abend kam ich ins Zimmer, um das Licht auszudrehen. Und die Jungen fingen an, mir ihre Geschichten zu erzählen.“ Anne fängt beim Erzählen an zu weinen. „Ein kleiner Junge berichtete, dass seine Arbeit darin bestand, gemeinsam mit einem anderen Jungen die Leichen aus den Gaskammern zum Krematorium zu befördern. Man hatte ihnen beigebracht, die Leichen aufzustapeln: sechs in eine Richtung, dann sechs in die andere Richtung, so wie Baumstämme, damit sie nicht einfach vom Wagen herunterfallen würden. Und dieser Junge fand so seine Mutter. Die Deutschen waren so effizient, sie hatten den Jungen beigebracht, den Leichen die Goldzähne zu ziehen.“

Am nächsten Tag sollte Anne die Jungen zum Duschen in ein separates Waschhaus bringen. Sie verteilte Seife und Handtücher und ging vor der Gruppe her, um ihnen den Weg zu zeigen. „Ich schloß die Türe zum Waschhaus auf und plötzlich stießen mich die Jungen hinein und sperrten die Tür hinter mir zu. Sie glaubten, dass ich sie zu einer Gaskammer gebracht hatte und sie sterben sollten.“ Als ihre Zimmerkollegin sie als vermisst meldete, kam man und befreite Anne aus dem Waschraum. “So wusste ich plötzlich über den Geruch des Todes Bescheid.“

Anne in England.
Foto: Stella Schuhmacher

Das Schicksal unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge

Seit 1951 lebt Anne nun in New York. Große Sorgen macht sie sich über das Schicksal von Flüchtlingskindern, die ohne ihre Eltern reisen müssen. Die Jacke mit der Aufschrift “I really don’t care, do u?”, die Melania Trump bei ihrem Besuch an der amerikanisch-mexikanischen Grenze im Juni 2018 trug, warf für Anne viele Fragen auf. „Hat sie die Kinder gemeint? Wohl hoffentlich nicht?“ Sobald die Mitglieder der Kindertransport Association von den Käfigen ähnelnden Unterkünften hörten, in denen die Kinder untergebracht wurden, schrieben sie Protestbriefe an Senatoren. Sie forderten, man solle Flüchtlingen, sowohl aus Zentralamerika als auch Syrien, und vor allem Kindern, die vor Gewalt und Ausbeutung fliehen, eine Chance auf ein neues Leben ermöglichen. „We are grateful every day for the chance we were given to survive and thrive and urge you to keep the doors open to refugees”, endet der Brief, der von 200 Holocaust-Überlebenden unterschrieben wurde.

Auch in diesem Zusammenhang steigen für Anne schreckliche Erinnerungen auf. In ihrem ersten Wohnhaus auf der Upper West Side in Manhattan befand sich ein Bordell. Eines Tages begegnete sie am Gang einem kleinen, nur leicht bekleideten Mädchen, anscheinend lateinamerikanischen Ursprungs, das dort "arbeitete". Auf Annes Frage, ob alles okay sei, sagte das Mädchen mit glitzernden Augen: „Ich habe mein eigenes Bett. Mir geht es gut. Das reicht.“ Wenn Anne nun über das Schicksal von Flüchtlingskindern in der USA oder in Europa in der Zeitung liest, fragt sie sich: „Wir wissen nicht, was mit diesen Kindern passiert. Manche werden mit Bussen zu irgendwelchen Verwandten geschickt. Wer weiß, ob diese Kinder nicht als Prostituierte ausgebeutet werden?“ Jetzt, während der Corona-Pandemie und die dadurch bedingten Schulschließungen, sind vor allem wehrlose Minderjährige verstärkt Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung ausgesetzt. "Wo sind die Kinder? Gehen sie in die Schule? Wurden sie adoptiert? Wir haben sie in der Corona-Krise vergessen." (Stella Schuhmacher, 11.9.2020)

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