Der stets zerzauste Johnson ist seit einem Jahr britischer Premierminister.

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I. Johnson versprüht Selbstbewusstsein

Der heute 56-Jährige übernahm die Verantwortung für das Vereinigte Königreich während einer besonders heiklen Periode. An der Zwickmühle hatte Johnson erheblichen Anteil: Ohne seinen Einsatz für die lügenhafte Austrittskampagne hätten sich die Briten 2016 wohl nicht mit knapper Mehrheit für den Brexit entschieden. Was in der politischen Elite viele erregt, ist – neben Johnsons Hang zu Schwindeleien und Lügen – dessen unerschütterliches, notfalls auch jeder Realität widerstehendes Selbstbewusstsein für Großbritannien. Er steht damit in der Tradition des "merry old England", dessen Wurzeln in den englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts zurückreichen. Damals kämpften die Cavaliers des autokratischen Königs Karl I. gegen die Roundheads des Republikaners Oliver Cromwell. Mögen seine Gegner im 21. Jahrhundert auch nicht unbedingt Puritaner wie Cromwell sein – Johnson bleibt ein Cavalier, ein Anhänger des vergnüglichen, risikoreichen Lebens, in dem der leichtfertige Umgang mit der Wahrheit und mit anderen Menschen, besonders mit Frauen, als Kavaliersdelikt gilt.

II. Johnson hat Glück – und Erfolg

Angefeuert von seinem engsten Berater Dominic Cummings erzwang der Premier im vergangenen Dezember vorgezogene Neuwahlen. Erfolgreich ging er aus diesen nur hervor, weil weder liberale Tories noch die Opposition mit zündenden Ideen oder charismatischen Personen aufwarten konnten. Nach dem triumphalen Erfolg wurde zwar der Brexit Ende Jänner Realität. Der Premier aber wirkte, als interessiere ihn die tägliche harte Arbeit in der Downing Street nicht mehr recht. Bei einer Kabinettsumbildung im Februar scharte er eine Mannschaft der Unerfahrenen und Mediokren um sich, vereint nur durch die fanatische Befürwortung des EU-Austritts.

III. Johnson hat in der Corona-Pandemie versagt, kennt aber keine Demut

Am Ostersonntag im April, kurz nach seiner Entlassung aus dem Spital, nahm der sichtlich von Covid-19 Gezeichnete eine kurze Videobotschaft auf. Da sei er dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen, sagte Johnson und bedankte sich beim Nationalen Gesundheitssystem (NHS). Der Krankheiten stets kleinredende Mann hatte auch Sars-CoV-2 zuvor wochenlang rhetorisch minmiert. Noch Anfang März schüttelte er Krankenhauspatienten die Hand. Vier Monate später sind Schätzungen zufolge 65.000 Menschen an den Folgen von Covid-19 gestorben, auf die Bevölkerungszahl bezogen so viele wie nirgendwo sonst auf der Welt bis auf Belgien. Johnson räumt ein, es gebe Leute, die von Fehlern – ein verspäteter Lockdown und die Vernachlässigung der Alten- und Pflegeheime – sprechen, weshalb eine umfassende Untersuchung unausweichlich sei.

IV. Die Briten halten an Johnson fest – noch

Beim letzten parlamentarischen Schlagabtausch vor den Sommerferien wich der Premier wieder einmal allen bohrenden Fragen des neuen Labour-Oppositionsführers Keir Starmer aus, pries sich selbst für die Durchsetzung des EU-Austritts und behauptete: "Wir sind die Regierung des Volkes, wir unterstützen die Arbeiter." Wie sehr das tatsächlich zutrifft, ist derzeit unklar: Neulich sorgte eine Umfrage für Aufregung, in der erstmals mehr Briten Starmer (37 Prozent) für einen kompetenten Regierungschef hielten als Johnson (35 Prozent). In den Befragungen zur Wahlabsicht aber liegt die Regierungspartei stets vor Labour, meist mit sieben bis zehn Punkten Vorsprung.

V. Johnson gefährdet den Zusammenhalt des Landes, ein Chaos-Brexit droht

Für den Sonderfall Nordirland scheinen beide Seiten das derzeitige Weiterwursteln beibehalten zu wollen. Dass die schottische Unabhängigkeit durch den EU-Austritt näherrückt, räumt indirekt mittlerweile sogar London ein. Nicht umsonst schickten seine Strategen Johnson am Donnerstag auf die Orkney-Inseln im hohen Norden, um dort die Stärke der seit 1707 bestehenden Union zwischen Schottland und England zu beschwören. Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon von der Nationalpartei (SNP) erfreut sich bester Zustimmungswerte, ihr Wahlsieg im Frühjahr 2021 gilt als ausgemacht. Wenn im schottischen Parlament die Abspaltungsbefürworter über die klare Mehrheit verfügen, dürften Rufe nach einer zweiten Volksabstimmung unwiderstehlich werden.

Ergebnislos endeten am Donnerstag zudem die Verhandlungen über die Wirtschaftsbeziehungen zur EU. Wie viel Unordnung Johnson der Wirtschaft, wie viel Kompromissbereitschaft den Brexit-Fanatikern zumuten kann – diese Frage dürfte nach der Sommerpause im Vordergrund stehen. (Sebastian Borger aus London, 24.7.2020)