Junge Grazerinnen und Grazer haben in den letzten Monaten den ältesten Marktplatz der Stadt, den Kaiser-Josef-Platz nebst der Oper, in Besitz genommen. In der Corona-Zeit ist dort neues urbanes Leben eingezogen.

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Anrainer wollen das Gasserl neben dem Platz wieder für den Autoverkehr öffnen.

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Es ist gut drei Jahrzehnte her, da entwarf der Grazer Stadtpolitiker Erich Edegger (ÖVP) eine kleine Verkehrsrevolution. Er durchmaß die Stadt jeden Tag zu Fuß oder mit seinem Fahrrad, kannte jeden Winkel von Graz und kam zum Schluss: Diese Urbanität soll künftig großflächig den Fußgängern und Rad fahrenden Grazerinnen und Grazern gehören. Der urbanen Lebensqualität wegen. Edegger ließ Radwege anlegen, Tempo 30 einführen, Einbahnsysteme konzipieren und schwor die Stadt auf die sanfte Mobilität ein. Dann plötzlich, im Herbst 1992, starb Edegger.

Er hatte keine Zeit mehr, die Landeshauptstadt zu einer europäischen Rad-Modellstadt, wie man sie heute etwa in den Niederlanden findet, zu machen.

Autogerechte Stadt

Nach seinem Tod übernahm wieder die Autolobby das Kommando und hat es bis heute nicht aus der Hand gegeben. Der Primat der Grazer Verkehrspolitik heißt seit Jahren: Der Verkehr muss fließen – gemeint ist der Autoverkehr.

Die heute vorhandenen Radwege stammen zum Großteil noch immer aus der Ära Edegger. Ein zusammenhängendes innerstädtisches Rad- und Fußgängernetz konnte – oder wollte – bis dato kein Bürgermeister durchsetzen.

Eine winzige Gasse neben dem neuen urbanen Treffpunkt auf dem Kaiser-Josef-Platz steht exemplarisch dafür, wie sehr diese alte Idee einer "autogerechten Stadt" nach wie vor in den Köpfen der schwarz-blauen Stadtregierung spukt. Das Gasserl hätte eigentlich ein integraler Bestandteil einer großen Begegnungszone rund um den alten Kaiser-Josef-Platz werden können. Einige wenige Anrainer und Geschäftsleute, die Parkplätze und Zufahrten einforderten, zwangen die Politiker jetzt aber in die Knie: Die Corona-bedingte Sperre der Straße soll wieder aufgehoben, Parkplätze sollen wieder hergestellt werden und Autos wieder durchfahren dürfen.

Ein Platz füllt sich mit Leben

Vor einem Jahr noch war der angrenzende Kaiser-Josef-Platz, der älteste Marktplatz der Stadt, ab Mittag, wenn die Marktstände abgebaut waren, vollgeräumt mit parkenden Autos. Nach einem dringend nötigen Umbau blieb der Platz schließlich autofrei. Plötzlich entwickelte sich etwas, was Graz in dieser Form noch nicht erlebt hat: Grazerinnen und Grazer, junge wie alte, ergriffen – was so von der Stadt wohl nicht geplant war – von diesem Platz Besitz.

Keine Regeln, keine Vorschriften, keine Stopptafeln, nichts. In der Mitte ist ein freier Platz leergeräumt, den Skater nutzen, mobile Tischtennistische werden aufgestellt, Ballspiele erfunden, Hochzeiten gefeiert, Picknicks arrangiert, Konzerte organisiert. Es muss nichts konsumiert werden, viele nehmen ihre Drinks und Essen mit, die Marktstände der Bauern werden zu Tischen und Sitzgelegenheiten umfunktioniert.

Rundum hat sich eine zum Teil neue junge Gastronomie etabliert. Urbanes junges Leben "at its best" ist erwachsen. Mit dem Schönheitsfehler dieser kleinen, angrenzenden Seitengasse.

"Werden es nicht zulassen"

Als die Corona-Pandemie ausbrach und Social Distancing angesagt war, mussten etliche Standler auf diese Nebengasse ausweichen. Und endlich, was die Rathausbürokratie beim Umbau des Platzes vergaß, wurde diese Gasse zur verkehrsfreien Zone.

Anrainer, darunter eine ÖVP-Gemeinderätin, meldeten aber nun Protest an. Die Politikerin brachte vor einigen Tagen einen dringlichen Antrag im Stadtparlament ein, wonach dieses kleine Stück Straße wieder in den "Urzustand" versetzt werden müsse. ÖVP und FPÖ stimmten dem zu.

"Das werden wir nicht zulassen", sagt Grünen-Umweltstadträtin Judith Schwentner. "Wie will denn die Stadt die Pläne, wonach 100 Millionen Euro für Fahrradwege investiert werden sollen, umsetzen, wenn sie es nicht einmal schafft, ein paar Meter Straße vom Verkehr zu beruhigen, und sie sofort in die Knie geht, wenn ein paar Anrainer aufschreien." Die zuständige Verkehrsstadträtin Elke Kahr (KPÖ) sieht kaum noch eine Chance: "Der Auftrag des ÖVP-Antrags ist klar: Die Straße muss in den Zustand vor Corona zurückversetzt werden. Mit Autodurchfahrt und Parkplätzen." (Walter Müller, 24.7.2020)