Im Gastkommentar weist der ehemalige Jetzt-Nationalratsabgeordnete Alfred J. Noll auf Versäumnisse des Nationalrats hin.

Jede Regierung in einem jeden Land wäre von der Pandemie überfordert, einerlei welcher Couleur. Das erste Opfer einer jeden Krise sind die Regierenden, denn mit den selbstverständlich gewordenen Mustern eines bloßen "Dahinregierens" ist’s nicht mehr getan – plötzlich ist ein Maß an Entscheidungsfreudigkeit und Initiative gefragt, das den eigenen Erwartungshorizont übersteigt. Es muss gehandelt werden.

Wir haben hier freilich zwei Besonderheiten, die durchaus Beachtung verdienen: Der Betretungsverbotsverordnung des Gesundheitsministers vom 16. März 2020 war nämlich von allem Anfang an anzusehen, dass sie an sich schon rechtswidrig ist und dass sie Millionen von Österreicherinnen und Österreichern bis in die intimste Lebensführung hinein betreffen wird.

"Ausnahmsweise Ausgang": eine Personenkontrolle am Wiener Donaukanal an einem Märztag während des Corona-Lockdowns.
Foto: APA / Herbert P. Oczeret

Der Gesetzgeber des Covid-19-Maßnahmengesetzes sagt für Juristinnen und Juristen etwas sehr Einfaches: Trotz Pandemie halten wir das Recht auf allgemeine Freizügigkeit und Bewegung für alle aufrecht, aber der Gesundheitsminister wird ermächtigt, für bestimmte Orte dann ein Betretungsverbot auszusprechen, wenn er dies zur Bekämpfung der Pandemie für notwendig hält. Das ist so leicht zu verstehen, dass es einem Volksschulkind klar sein dürfte: Freiheit ist die Regel, das Betretungsverbot soll die Ausnahme sein. Der Gesundheitsminister hat dieses Konzept umgedreht: Er hat das Betreten aller öffentlichen Orte verboten und einige Ausnahmen erlaubt; anders gesagt: Das Verbot ist die Regel, der Ausgang ist die Ausnahme.

Spätestens eine Woche nach Erlass dieser Verordnung war allgemein bekannt, dass eine derartige Regelung vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) nicht halten könne. – Was hätte getan werden können?

Grundrechte wurden dispensiert

Wenn man der Meinung war, dass ein allgemeines Betretungsverbot gesundheitspolitisch geboten ist, dann hätte man das sofort ins Gesetz schreiben müssen; dann wäre die Anschober-Verordnung gedeckt gewesen, und man hätte sich die jetzt vom VfGH deklarierte Gesetzwidrigkeit erspart. Aber nein – unser Gesetzgeber hat über Wochen sehenden Auges zugesehen, wie etwas missachtet wird, was er selbst verabschiedet hat! Unsere Abgeordneten haben geschlafen. Und es ist wenig sachgemäß, jetzt Rudolf Anschober die "Schuld" zu geben, wenn er für das, was doch von allen für notwendig erachtet wurde, nicht die entsprechende gesetzliche "Rückendeckung" bekommen hat. Anschober wurde vom Gesetzgeber alleingelassen.

Niemals wurde in der Zweiten Republik derart ins Gesamtgefüge der Grundrechte eingegriffen wie durch diese Verordnung. Denn diese Verordnung hat de facto zu einem weitgehenden Erwerbs-, Konsumtions- und Bewegungsverbot geführt. Durch bloße Verordnung wurden die entsprechenden Grundrechte der Bevölkerung dispensiert.

Heiliger Gral des Rechtsstaats

Nun haben wir in Österreich keine übertrieben gute Erfahrung mit dem "Verordnungsstaat"; deshalb hat Österreich auch kein eigenes "Notstandsrecht". Die Verwaltung soll sich an die Gesetze halten, und das Gebot der Gesetzlichkeit der Verwaltung ist sozusagen der heilige Gral des demokratischen Rechtsstaats. Dieses Gesetzlichkeitsprinzip ist nicht das blutleere Paragrafenreitertum einer hypertrophen Juristerei, sondern es ist das Essential der Demokratie überhaupt: Nur dann, wenn gewährleistet ist, dass sich die an Macht, Expertise, Entscheidungsschnelligkeit et cetera der Legislative immer überlegene Exekutive an die Gesetze hält, ist so etwas wie bürgerliche Demokratie überhaupt vorstellbar. Entlassen wir die Verwaltung aus diesem Korsett – etwa wenn wir meinen, es sei etwas zwar nicht gesetzmäßig, aber es sei doch immerhin "notwendig" gewesen –, dann verabschieden wir uns von unserem Modell der Demokratie überhaupt.

Und genau an diesem Punkt scheiden sich die Geister: In der parlamentarischen Demokratie haben unsere Volksvertreter die Aufgabe, das Fundament unserer Demokratie zu wahren. Natürlich muss ihnen nicht jede gesetzwidrige Verordnung ins Auge springen – wenn aber alle Österreicherinnen und Österreicher erkennbar von einer gesetzwidrigen Verordnung betroffen und nachfolgend durch die Polizei drangsaliert werden, dann ist das Nichtstun unserer Abgeordneten skandalös. Nicht die Gesetzwidrigkeit der Verordnung ist das eigentliche Problem, das kann in Krisenzeiten schon passieren; das Problem besteht darin, dass wir uns nicht darauf verlassen können, dass der Nationalrat auf derartige Fehler angemessen reagiert.

Kontrolleure schauen zu

Man möchte es in die Hirne dieser Leute tremmeln: Kapiert ihr alle denn nicht, dass im demokratischen Rechtsstaat die Gesetzlichkeit der Verwaltung das einzige Schild gegen die exekutiven Gestaltungssehnsüchte der Regierung ist? Wollt ihr nicht verstehen, dass in Zeiten, in denen (medial befeuert) das Handeln der Regierung weitaus mehr den Imperativen tagespolitischer Opportunität als den Geboten administrativer Sachlichkeit entsprechen will, einzig und allein unsere Gesetze wenigstens noch die Hoffnung geben, dass wir nicht einem oligarchischen Diktattaumel unterfallen? Und schließlich: Warum tut ihr nichts, wenn ihr doch seht, dass sich die Regierung nicht an euer Gesetz hält? Dass die Anschober-Verordnung rechtswidrig war, finde ich deshalb nicht weiter erregungswert; die Verwaltung muss in der Krise Fehler machen, denn wir wollen von ihr, dass sie handelt – nur wer nichts tut, macht keine Fehler. Überaus skandalös aber finde ich, dass die Abgeordneten als von uns gewählte Kontrolleure der Exekutive wochenlang zuschauten, wie diese offenkundigen Fehler prolongiert wurden; dass hier sehenden Auges Tausende in Verwaltungsstrafverfahren bugsiert wurden.

Die einen werden sagen: Ob’s jetzt korrekt war oder nicht, einerlei, es hat geholfen, alles andere sind "juristische Spitzfindigkeiten" (© Sebastian Kurz); die anderen, und zu denen will ich mich zählen, holen den Teufel von der Wand und sagen: Gerade in Zeiten der Krise sollten wir doppelt und dreifach genau sein mit der Einhaltung verfassungsrechtlicher Erfordernisse, denn ganz leicht können wir uns von ihnen lösen, aber nur mit beträchtlichem Aufwand werden wir die uns jetzt noch gewährleistete Ordnung wiedererringen, wenn sie einmal weg oder auch nur untergraben ist. Und seit 16. März tun unsere Volksvertreter nichts, was unsere allenfalls bestehende Zuversicht in dieser Hinsicht rechtfertigen könnte. (Alfred J. Noll, 24.7.2020)