9. Juli 2020: Arbeiterinnen der Gewerkschaft GATWU demonstrieren vor der Euro Clothing Company in der indischen Stadt Srirangapatna.

Foto: AFP / Sophie Deviller

Ich bin im H&M auf der Kärntner Straße und will ein T-Shirt probieren, aber die Schlange vor den Kabinen ist lang. Neben mir hängen bunte Teile an schlichten Ständern. Menschen gehen mit Kleidungsstücken am Arm suchend durch den Shop, die Augen immer auf neue Funde gerichtet. Dazwischen hasten Angestellte hin und her. Für fast sieben Wochen waren die Modeläden in Österreich geschlossen. Aber das ist schon wieder seit über zwei Monaten Geschichte. Alles wirkt ziemlich normal hier.

Ich schaue auf mein T-Shirt und muss an die feministische H&M-Werbung zur Herbstkollektion 2016 denken. An das Video, in dem Frauen mit unterschiedlichen Hautfarben, Körpern, Sexualitäten, Altersstufen und Genderidentitäten gefeiert werden.

Ich habe das Lied dazu im Kopf. "She’s a lady", wird im Video gesungen, während eine schwarze Transfrau, eine weiße, alte Businessfrau, eine Frau mit prallen Kurven und Fettpolstern und eine Frau mit Achselhaaren als schöne und starke Frauen dargestellt werden. Endlich wird eine Kabine frei. Ich ziehe mir das T-Shirt über den Kopf und schaue im Spiegel auf meinen Oberkörper. Da steht in schwarzen, fetten Lettern: "Girls Unite". Mädchen, vereinigt euch!

Ohne Vorwarnung

In Srirangapatna in Südindien vereinigen sich Frauen tatsächlich seit über einem Monat. Täglich sitzen sie vor der Fabrik, in der sie vor ihrer Kündigung noch Kleidungsstücke für H&M produziert haben. Am 6. Juni verkündete ihr Chef über Lautsprecher in der Fabrik, dass alle 1380 Arbeiter und Arbeiterinnen fristlos entlassen sind und dass sie am Montag nicht mehr zur Arbeit kommen sollten. Pallavi, eine von ihnen, erzählt: "Es kam ohne Vorwarnung. Die Hälfte von uns war schon gegangen, der Rest war gerade dabei zu gehen."

Der Grund für die Entlassungen? Angeblich fehlende Aufträge aufgrund von Corona. So standen plötzlich alle Arbeitenden – die meisten davon Frauen – ohne Lohn da. Noch am selben Tag begannen sie einen täglichen Protest, bei dem sie ihre Wiedereinstellung forderten. Nach zehn Tagen sprach die Arbeiterin Sanyia in die Mikros indischer Medien: "Manche von uns sind die einzigen Verdienerinnen in unseren Familien. Wir haben keine andere Möglichkeit, als unseren Protest fortzusetzen."

Pratibha R., Präsidentin der Gewerkschaft GATWU, die den Protest mitorganisiert, meinte zu India TV News, ein Grund für die Schließung der Fabrik könne Gewerkschaftszerschlagung sein. Die Euro-Clothing-Fabrik ist eine von 20 Fabriken des indischen Zulieferkonzerns Gokaldas Exports. "Unsere Gewerkschaft ist stark in dieser Fabrik. Es scheint, als wolle die Geschäftsführung den Hahn zudrehen", sagt die Gewerkschafterin.

Nur Worte

Seit Wochen gehen die Frauen Tag für Tag zur Fabrik und protestierten gegen ihre Entlassung und die Zerschlagung ihrer Gewerkschaft. Am 17. Streiktag twitterte H&M, man sei "in Dialog mit dem Zulieferer und der Gewerkschaft, um den Konflikt friedlich zu lösen". Gautam Mody von der NTUI-Gewerkschaft konterte am Tag darauf: Das seien nur Worte. "Die Arbeiterinnen protestieren seit 18 Tagen, aber es gibt keine präsentablen Maßnahmen von H&M."

Aber nach einem Monat Streik geht den Frauen langsam die Luft aus. Schon 300 Arbeiterinnen haben die Kündigung auf den Druck ihrer Ehemänner und Eltern hin akzeptiert, um eine angebotene Entschädigung zu bekommen. Von 1380 sind nur noch 600 Arbeiter und Arbeiterinnen am Protestieren. Die Fabrikführung drängt sie zur Kündigung. Mody sagt: "Sie spielen mit dem fehlenden Vertrauen der Arbeiterinnen in die Judikative."

Die Euro Holding ECC2 ist eine offizielle Zulieferfabrik von H&M. Rein rechtlich ist H&M trotzdem nicht zuständig für die Arbeitenden. H&M lässt seine Kleidung von jungen migrantischen Frauen im globalen Süden fertigen, die der Konzern aber nicht selbst einstellt. Dieses Produktionssystem ist profitabel für H&M und alle anderen Modemarken. Und diese Flexibilität macht sich besonders in Krisenzeiten bezahlbar.

Wenn, wie durch die Corona-Pandemie, plötzlich wochenlang keine Kleidung mehr gekauft wird, tragen nicht die Modemarken das Risiko, sondern die Arbeiter und Arbeiterinnen. Sie verlieren ihre Jobs und Löhne, wenn die Marken keine Aufträge mehr an ihre Zulieferfabriken vergeben. Eine Arbeiterin von Euro Clothing: "Wir werden nur geschätzt, wenn wir arbeiten, aber wenn es keine Arbeit mehr gibt, sind wir nichts mehr wert."

Rohstoffkosten abdecken

Mostafiz Uddin, Besitzer der Denim Expert Ltd. und Zulieferer von Inditex (Zara), Takko, Acardia und Peacooks, hat die Folgen dieses Produktionssystems am eigenen Leib zu spüren bekommen. Im April bekam der Unternehmer aus Bangladesch von einem seiner Abnehmer, der Acardia Group, mitgeteilt: "Sie werden zur Kenntnis nehmen, dass wir in der Lage sind, alle Bestellungen in allen Etappen aufzulösen. Jede Bestellung, die gerade transportiert wird oder am 17. März schon auf dem Weg war, sind wir bereit mit einer Vergünstigung von 30 % anzunehmen. (...) Wenn Sie diesen Vorschlag nicht akzeptieren wollen, wird die Bestellung gekündigt."

April 2020: Eine coronabedingt menschenleere Textilfabrik nahe Dhaka, Hauptstadt von Bangladesh.
Foto: AFP / Munir Uz Zaman

Uddin kommentierte öffentlich, dass dies gerade einmal die Rohstoffkosten abdecke, er damit aber die Löhne samt Betriebskosten nicht zahlen könne. Seitdem versucht er, sein Geld zu bekommen – ohne Erfolg. Selbst als er die zwei nicht zahlenden Marken, Arcadia und Peacocks, vor den Eid-Feiertagen bittet, das fehlende Geld zu überweisen, um den Arbeitenden den rechtlich verpflichtenden Feiertagsbonus zu zahlen, blitzt er ab.

Er ist verzweifelt, postet ein Selfie mit verweinten Augen. Er kann sich nicht vorstellen, ihnen nicht das zu bezahlen, was ihnen rechtlich zusteht. "Wir Zulieferer haben keinerlei Macht in diesem System", sagt er am Telefon.

Weniger respektvoll

Andere Fabrikchefs sind weniger respektvoll und geben das finanzielle Risiko an ihre Arbeiter und Arbeiterinnen weiter. Die Kündigungen rund um Euro Clothing in Südindien sind kein Einzelfall in der globalen Textilindustrie. Der weltweite Rückgang der Kleidungskäufe und die Lockdown-Regelungen haben zur Folge, dass Millionen Menschen arbeitslos werden. Allein in Bangladesch haben Anfang April eine Million Textilarbeiter und Textilarbeiterinnen ihren Job verloren. Mit dem Einkommen verlieren sie oft die Wohnung. So kam es in den Ländern mit Textilindustrie zu massenhafter Inlandsmigration von Menschen, die nach dem Verlust des Jobs in ihre ländlichen Heimatorte reisten. Da, wo es geht, wird aber noch immer um den Arbeitsplatz gekämpft.

In Kambodscha wurde am 4. April Soy Sros, eine lokale Gewerkschafterin von CTUM, für fast zwei Monaten ins Gefängnis gesperrt, weil sie via Facebook ihren Arbeitgeber, die Superl Holdings Ltd., für mögliche Kündigungen kritisierte. Während Sros wochenlang mit so vielen Frauen in einer Zelle eingesperrt war, dass sie nachts nicht alle gleichzeitig auf dem Boden schlafen konnten, kämpften Gewerkschaften international und national um ihre Freilassung. Als diese am 28. Mai endlich erfolgreich waren, wurde eine völlig geschwächte Frau aus dem Gefängnis entlassen. Ihre Gewerkschaft konnte erkämpfen, dass sie wieder angestellt werden musste. Jetzt näht sie weiter Taschen für die Luxusmarke Michael Kors. Eine Entschädigung bekam sie nicht.

Die Situation in Kambodscha ist niederschmetternd. Hatte die Arbeiterbewegung mithilfe internationaler Solidarität den Mindestlohn in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppeln können, so geht es seit Covid-19 wieder steil bergab. Von Unternehmensseite wird gefordert, die Mindestlohnverhandlungen heuer zu sistieren. 450 von 1100 Textilfabriken in Kambodscha haben ihre Produktion ausgesetzt, Arbeitende erhalten noch knapp 40 Prozent des Mindestlohns. Viele können ihre Mikrokredite nicht mehr bezahlen. Gleichzeitig wirft die Regierung der unabhängigen Gewerkschaftspräsidentin Yang Sophorn "illegale Aktivitäten" vor und droht, die Gewerkschaft aufzulösen.

Desaster-Kapitalismus

In Myanmar wird besondern militant gegen die Entlassungen und die Gewerkschaftszerschlagung gekämpft. In der Myan-Mode-Fabrik, einem Zulieferer von Inditex (Zara), Mango und Primark, wurden am 28. März 520 Arbeiter und Arbeiterinnen entlassen.

Einige Minuten nachdem die Betriebsgewerkschaft sich mit den Chefs getroffen hatte und ein Ende der verpflichtenden Überstunden gefordert hatte, wurde die Entlassung der 520 Gewerkschaftsmitglieder verkündet. Danach arbeiteten die 700 übrigen Arbeiter und Arbeiterinnen, die keine Gewerkschaftsmitglieder waren, weiter.

Schon vor Corona war es schlimm für die 500.000 Betroffenen in Myanmar. "Aber jetzt sehen wir wirklich eine Art Desaster-Kapitalismus", sagt Andrew Tillett-Saks, US-amerikanischer Gewerkschafsorganisator in Myanmar. Zuvor hatten die Arbeitenden durch Streiks erfolgreich Verbesserungen erkämpft.

Aber zu Corona-Zeiten gibt es eingeschränkte Streikmöglichkeiten, und so müssen Gewerkschaften auf öffentliche Aufmerksamkeit setzen. Sie versuchen, die Käuferkonzerne ihrer Fabriken auf Facebook, Twitter und Co unter Druck zu setzen. Obwohl die Kämpfe, wie der von Myan Mode, in internationalen Zeitungen landeten, ließen die Antworten der Modemarken auf sich warten. Im Falle Myan Mode dauerte es fast drei Monate, bis ein Teil wiedereingestellt wurde.

Billige Arbeitskräfte im globalen Süden

Die ultrareichen Modeunternehmer zeigen sich gern in guten Licht, Amancio Ortega, CEO von Inditex (Zara) und sechsreichster Mann der Welt, ließ sich in Spanien preisen, weil er Atemschutzmasken zur Verfügung stellte und seinen spanischen Angestellten während der Geschäftsschließungen ihren Lohn zahlte, während in seinen Zulieferfabriken Leute gekündigt wurden.

H&M schmückt sich mit feministischen Empowerment-Statements. Nach der Ermordung von George Floyd regnete es auf den Kanälen der Modemarken Black-Lives-Matter-Statements. Die Konzerne schmücken sich mit Feminismus und Antirassismus, profitieren im globalen Süden aber von der billigen Arbeitskraft nichtweißer Frauen, derer sie sich in Krisen einfach entledigen.

Ich stehe in der Kabine bei H&M und schaue auf das Preisschild des "Girls Unite"-T-Shirts. Fünf Euro kostet es. Das sind fünf Euro Feminismus für weiße, europäische Kundinnen wie mich. "Made in Bangladesh" steht auf dem Etikett des T-Shirts. Ich frage mich, wie es den Frauen geht, die es genäht haben. Haben sie noch einen Job? Können sie Miete zahlen, Essen, Schulgeld für die Kinder? Haben sie die Möglichkeit, sich mit ihren Arbeitskolleginnen zu vereinigen, um ihre Rechte zu erhalten? (Anna Holl, 25.7.2020)