Im Angesicht der Welle – und der Naturgewalt: Das Bild zeigt ein Taga Blowhole auf Savaii Samoa.

Foto: Imago / RobertHarding / Michael Runkel

Fangfrage: Wie heißt der längste Fluss Nordamerikas? Nein, eben nicht Mississippi, der "Ol’ Man River", den Mark Twain alias Samuel Clemens in die Weltliteratur umleitete. Sondern es ist der Missouri. Der, um alles noch etwas verwirrender zu machen, nicht im Bundesstaat gleichen Namens entspringt, sondern in der südwestlichen Ecke von Montana im Nordwesten der Vereinigten Staaten von Amerika.

Der Deutsche Dirk Rohrbach, heute 52, gab vor zehn Jahren seine Arbeit als Arzt und Radiomoderator auf und wurde professioneller Abenteurer. Er paddelte den Yukon River in einem Birkenholzkanu zur Gänze entlang, er durchquerte die USA von Ost nach West auf einem Fahrrad.

Dirk Rohrbach, "Im Fluss. 6000 Kilometer auf Missouri und Mississippi durch Amerika". 22,70 Euro / 304 Seiten mit 44 Abbildungen. Malik, München 2020
Cover: Malik

Über beide Touren schrieb er erfolgreiche Bücher und gestaltete gut besuchte Multimediavorträge. Nun nahm sich der Amerika-Liebhaber den 4.087 Kilometer langen Missouri vor, der bei St. Louis in den 3778 Kilometer kurzen Mississippi strömt. Mit einem selbstgebauten Kajak aus Holz fuhr er den gesamten Fluss entlang, und gleich auch noch den Mississippi ab St. Louis bis nach New Orleans.

Großes Abenteuer

Das Ganze: ein großes Abenteuer, lebendig dargeboten, abwechslungsreich auch wegen der Rückschläge, der eigenen Fehler und Idiosynkrasien – mit dem Missouri fremdelte er fast bis zum Ende –, und wegen der Begegnungen mit vielen Menschen, darunter jede Menge "river angels", die Flusspaddlern Gratishilfe, Zeltplätze und Essen offerieren.

Rohrbach erzählt lebendig und unterhaltsam, dabei durchgehend subjektiv – was heißt, von Geschichte und Politik der unterschiedlichen Regionen erfährt man nichts – von seinem Abenteuer. Dass das Ganze nicht romantischer Selbstzweck ist oder ein lebensverändernder Trip, sondern Teil eines Marketingpakets, sodass er wegen besonders schöner Impressionen manchmal extra haltmacht und ein Jahr später mit einem Truck wiederkehrt, damit muss man sich abfinden.

Immerhin bringt Rohrbach von seiner 135 Tage währenden und rund 6000 Kilometer langen, physisch auslaugenden Aventiure mehr mit als Jens Mühling, Redakteur einer Berliner Tageszeitung. Sechs Monate lang reiste Mühling die Küste des Schwarzen Meeres entlang, zu Fuß, mit Bus oder als Anhalter, am Ende auf einem Schiff, im Uhrzeigersinn, beginnend im Sommer westlich der Krim.

Jens Mühling, "Schwere See. Eine Reise um das Schwarze Meer". 22,70 Euro / 320 Seiten. Rowohlt, Hamburg 2020
Cover: Rowohlt

Russland, Abchasien, Georgien, die Türkei, Bulgarien, Rumänien, Moldawien, die Ukraine sind die Anrainerstaaten, die er durchquert, um im Winter auf der 2014 wider alles Völkerrecht von Putin annektierten Halbinsel Krim zu enden. Was für ein dankbares Thema, der letzte kluge Schwarzmeerreisende war vor 25 Jahren der Brite Neal Ascherson, und wie viel hat sich seither verändert. Und wie flau ist, was Rohrbach ausbreitet.

Von einer sechsmonatigen Reise so überschaubar wenig zurückzubringen ist schon bemerkenswert. Dies im Duktus einer schmucklosen, fast unliterarischen Zeitungsreportage aufzuschreiben ist noch merkwürdiger. Immer wieder versucht er sich an pointierten Vignetten.

Und immer wieder sticht an ebendiesen Stellen besonders stark ins Auge, wie sehr ihm die literarische Panaché eines Karl-Markus Gauß fehlt und die hochliterarische Hochgestimmtheit eines Patrick Leigh Fermor. Wären Mühling doch zuvor nur William Least Heat-Moons Blue Highways in die Hand gedrückt worden, Andrew Greigs At the Loch of Green Corrie oder Madeleine Buntings Hebriden-Buch.

Von flachen Gletschern

Noch mehr Rätsel gibt Wasser und Zeit des 47-jährigen Isländers Andri Snær Magnason auf. 2016 landete der Autor und Umweltaktivist in seiner Heimat bei der Präsidentschaftswahl auf Platz drei. Wer sich, auch wegen entsprechender Verlagsannoncierung und des Untertitels, eine fortschreibende Ergänzung von Elizabeth Kolberts erschreckend-großartigem, preisgekröntem Band Vor uns die Sintflut erwartet, wird auf erschütternde Weise enttäuscht.

Andri Snær Magnason, "Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft". Aus dem Isländischen von Tina Flecken. 24,70 Euro / 304 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2020
Cover: Insel Verlag

Zu einem Teil ausuferndes Familienmemoir und Gespräche mit seinen hochbetagten Großeltern über ihre Jugendausflüge und Skiwanderungen durchs schneeige Gebirge, zu einem anderen Teil zwei lange Gespräche mit dem tibetischen Dalai Lama, in dem wohlfeile Gemeinplätze ausgetauscht werden, und zu schlechter Letzt pathetisches Lamento, basierend auf der Lektüre einiger Magazintexte und zufällig ihm in die Hände fallender älterer Bücher über Umweltzerstörung, bekannt aus Magnasons Anti-Aluminium-Buch Traumland von 2010, und schrumpfende Gletscher auf Island.

Das Ganze ergibt eine krause bis wirre, durchgehend banale Melange. Wird hier auf ein ökologisch interessiertes Lesepublikum geschielt, das an Schulstreikfreitagen intellektuell bisher über Saint-Exupérys Kleinen Prinzen nicht hinausgekommen ist?

Stetig vergewissert man sich, ob dieser Text denn tatsächlich vom Haus Suhrkamp verlegt worden ist, Heimat von Adorno, Habermas, Sloterdijk und Ulrich Beck – und stellt die Frage, wie das passieren konnte. Magnasons Buch ist eine einzige Peinlichkeit. Wahrscheinlich hat die Übersetzerin Tina Flecken während ihrer Arbeit Hornhaut an den Händen bekommen, weil sie diese so oft über dem Kopf zusammenschlug.

Die Vermessung des Meeres

Der erste Eindruck vom Meer, den der französische Historiker Jules Michelet einst, 1861, in seinem Buch Das Meer rapportierte, war Furcht. Der zweite war Schrecken. "Für alle auf dem Land lebenden Wesen", meinte Michelet, "ist das Wasser das nicht zu atmende, das erstickende Element schlechthin. Eine zeitlose, schicksalhafte Schranke, die unwiderruflich die beiden Welten voneinander scheidet. Verwundern wir uns nicht, wenn die gewaltige Wassermasse, welche man das Meer heißt, fremd und düster in ihrer nicht zu erschließenden Tiefe, der menschlichen Einbildungskraft immer beängstigend erschien."

Gloria Meynen, "Inseln und Meere. Zur Geschichte und Geografie fluider Grenzen". 39,10 Euro / 504 Seiten mit Abbildungen. Matthes & Seitz, Berlin 2020
Cover: Matthes & Seitz

Der erste Eindruck, den man bei der Lektüre des Buchs Inseln und Meere. Zur Geschichte und Geografie fluider Grenzen von Gloria Meynen, die seit 2019 Medientheorie an der Kunstuniversität Linz lehrt, gewinnt, ist: Überwältigung. Von der Materie an sich. Wie von der ausgebreiteten Gelehrsamkeit.

Ihr Sujet ist einerseits fluid, nicht zu greifen, andererseits präzis und generalisierend. Festumrissene Beschreibung und sich stetig veränderndes wie veränderliches Objekt, das Wasser und Meere sind, macht Meynen fest an einem Paar der Gegensätze, an Alexander von Humboldt (1769–1859), dem deutschen Forschungs- und Weltreisenden und Universalgelehrten, und an Jules Verne (1828–1905), dem französischen Autor früher Science-Fiction, der für seine visionären Romane Einsichten zeitgenössischer Wissenschaft verflüssigte.

Für eine ob der thematisch außerordentlich weitgespannten, bis in abgelegene tote Seitenarme der Wissenslandschaft mäandernden per se akademischen Darstellung schreibt Meynen geradezu flüssig. Sie vermag tatsächlich den "gleißenden Moment der Transformation und Übertragung zwischen Beobachtung, Messung und wissenschaftlicher Erkenntnis" aufzuzeigen, anhand von Meeren und Inseln.

Pittoreske Sackgassen

Wissenschaftliche Fortschritte und pittoreske Sackgassen werden interessant erhellt, Kurzschlüsse von Geologie, Geschichte und herumgeisternden Erd- und Meeres-Fantasien ausgebreitet und frühe zeichnerische Dokumentationen sowie Kunstwerke analysiert. Das Meer wurde kartografiert und durch die Ratio bezwungen. Und doch gibt es weiterhin und ungebrochen die anziehende, geschmeidig dahinrollende Unterströmung, das Faszinosum des gewaltigen Fluiden. Und deren Gefährdung.

Jules Michelet schrieb vor 150 Jahren seherisch in seinem Buch über das Meer: "Die Ausrottung einer einzigen Art kann einen fatalen Eingriff in die Ordnung, in die Harmonie des Ganzen darstellen." (Alexander Kluy, 25.7.2020)