In Ländern mit utilitaristischen Werten ist die Versuchung groß, (wenigstens insgeheim) das Sterben von (älteren und kranken) Menschen hinzunehmen, um der Mehrheit und der Wirtschaft nicht zu schaden.

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Dass Ökonomen streiten, ist mittlerweile Alltag. Aber worüber sie streiten, was der eigentliche Gegenstand ihrer Kontroversen ist, das ist nicht immer überschaubar. Wer einmal eine Einführungsvorlesung in die Nationalökonomie besucht hat, dem schlägt ein "objektives" Zahlenwerk entgegen, das atemberaubend ist und den Eindruck erweckt, man befände sich in einer Subdisziplin der Mathematik.

Diesen (falschen) Anschein versucht das Buch des britischen Ökonomen Jonathan Aldred, Director of Studies in Economics an der Universität Cambridge, gründlich zu hinterfragen, indem es quer zu den gegenwärtigen Debatten über Staat und Markt, über gezielte Staatsverschuldung und budgetäre Sparsamkeit ein neues Feld der Kontroverse eröffnet.

Simpel gestrickt

Denn so sehr sich die Ökonomen als angewandte Mathematiker geben, so basieren ihre Ergebnisse auf ganz bestimmten Prämissen und Kalkülen.

Eine ökonomische Hauptströmung unserer Zeit, eine Ahnengalerie von Nobelpreisträgern, die Aldred auf die Chicago-Schule zurückführt, beruht auf anthropologischen Annahmen, die simpel gestrickt sind. Sie münden in ein rationalistisches, mit der Mathematik kompatibles Weltbild, wonach das Verhalten des Menschen völlig berechenbar ist.

Merkwürdige Kombination

Die heutige Ökonomie entpuppt sich damit als eine merkwürdige Kombination von avancierter Mathematik und vorkritischer Anthropologie, die keinem philosophischen Standard genügt.

Wenigstens für den Laien ist der ethisch-anthropologische Blick, den Jonathan Aldred auf die Diskurse seiner Disziplin seit Ende des Zweiten Weltkriegs wirft, neu, etwa die Spieltheorie John von Neumanns, die Annahme, dass die Maximierung von Wohlstand nur ein anderer Ausdruck für Aristoteles’ "summum bonum" darstellt, das Bild des Menschen als eines einseitigen und umtriebigen Egoisten, der kategorische Imperativ ökonomischer Messbarkeit, die Idee, dass der Staat der Gegner der Ökonomie schlechthin ist und dass der Mensch ein unmoralischer Trittbrettfahrer ist, der ausschließlich nach der Devise – siehe Klimakrise – "Das machen doch alle"verfährt.

Die Spiele, die da gespielt werden, haben eine wirtschaftliche und eine handfeste politisch-militärische Dimension, geht es doch beim Gefangenendilemma ganz offenkundig darum, dass zwei Parteien, die einen Vertrauenspakt schließen, insgeheim davon ausgehen, dass sie ihn bei der erstbesten Gelegenheit um des schnellen Vorteils willen brechen werden.

Verfehlte Dimension

Dieses Weltbild ist extrem reduktionistisch und verfehlt, wie Hannah Arendt etwa gezeigt hat, maßgebliche Dimensionen des Menschlichen. Es ist – und dieser Aspekt wird in Aldreds Buch nicht ausreichend beleuchtet – mit einer utilitaristischen Ethik verbunden, die im strengen Sinn eigentlich keine ist, legitimiert sie doch das Anstrebenswerte mit dem Verweis auf das Glück und die Kosten.

So bestimmt der Nobelpreisträger Gary Becker Diskriminierung als ökonomisches Fehlverhalten: Ein Arbeitgeber, der statt eines qualifizierten Schwarzen einen unqualifizierten Weißen einstellt, verursacht unnötige Kosten. Oder: Die traditionelle Ehe, in der der Mann arbeitet und die Frau zu Hause bleibt, ist eine ökonomisch optimale und daher eine statistisch wahrscheinliche Form effizienter Arbeitsteilung.

Alles muss seinen Preis haben, das Baby und die Leihmutter, die – bekanntes Filmmotiv – Frau für die eine Nacht, das Klima, die Gesundheit. Aber wie bemisst sich der Preis eines Menschen? Nach seinem Einkommen oder gemäß den finanziellen Kosten, die man in seine Berufsausbildung investiert hat? Darüber zerbrechen sich seit Thomas Schelling viele Ökonomen den Kopf. In den Vereinigten Staaten hat der Wert eines statistischen Durchschnittslebens im Jahr 2019 zehn Million Dollar betragen.

Zu Kompromissen fähig

Unter den Gegebenheiten der Corona-Krise würde das bedeuten, den Wert der Seuchenopfer mit den wirtschaftlichen Schäden und Verlusten der Gesunden und Gesundgebliebenen zu verrechnen.

In Ländern mit utilitaristischen Werten ist die Versuchung groß, (wenigstens insgeheim) das Sterben von (älteren und kranken) Menschen hinzunehmen, um der Mehrheit und der Wirtschaft nicht zu schaden. Die Menschenrechte gehen indes davon aus, dass jedes menschliche Leben einen gleichen, nicht ökonomisch quantifizierbaren Wert besitzt.

Im Ökonomismus ist kein Platz für gefährliche und für anrührende Irrationalismen, für Solidarität und für Werte, die nicht ökonomisch verankert sind. Klugerweise stellt der Autor solch einer "I am first"-Ideologie kein pathetisches "Der Mensch ist gut" entgegen.

Er geht davon aus, dass Menschen in der Lage sind, Kompromisse zu schließen, sich (auch zum eigenen Vorteil) solidarisch zu verhalten und womöglich ein Verhalten zu vermeiden, das ihren philosophischen oder religiösen Werten widerspricht. Wenn die diversen Spieltheorien so unbestreitbar wären, hätten viel mehr Wirtschaftskriege und atomare Schlagabtausche stattgefunden. Für "unser" Klima ist das eine gute Botschaft. (Wolfgang Müller-Funk, 25.7.2020)