Reisswolf meldete einen seltsamen Vorfall. Die Ermittlungen dazu wurden noch merkwürdiger.

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Exakt zwei Monate, nachdem das Ibiza-Video die Republik erschüttert hatte, läutete das Telefon von Oberstaatsanwältin Christine Jilek. Am Apparat: Der Chef der Firma Reisswolf, der von einem merkwürdigen Vorfall erzählte. Am 23. Mai sei ein "Walter Meisinger" in seine Firma gekommen, um fünf Festplatten fünfmal durch den Schredder laufen zu lassen. Den "Schredderstaub" habe er dann wieder mitgenommen, den Vorgang – wie die Polizei kurz darauf erfährt – mit seinem Smartphone "dokumentiert".

Der Kunde habe die Rechnung nicht bezahlt, und Walter Meisinger sei ein falscher Name, so der Reisswolf-Chef zur Staatsanwältin. Denn man habe den jungen Mann an der Seite von ÖVP-Chef Sebastian Kurz entdeckt, nachdem diesem als Kanzler vom Nationalrat das Misstrauen ausgesprochen worden ist. Er habe explizit die für das Ibiza-Verfahren zuständige Mitarbeiterin der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) erreichen wollen, um ihr das mitzuteilen, so der Reisswolf-Chef.

Die Staatsanwältin setzte sich daraufhin sofort mit der Soko Tape in Verbindung, wie aus dem Ermittlungstagebuch hervorgeht. Zuständiger Polizist wurde N.R., der einst für die ÖVP als Gemeinderat kandidiert und freundliche SMS mit Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache ausgetauscht hatte – was die WKStA zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht wusste.

R. stimmte der Staatsanwältin zu, als diese meinte: "Ein Zusammenhang mit dem Ibiza-Video ist angesichts der unmittelbaren zeitlichen Konnexität und den objektiven Umständen der Tat indiziert." Sprich: Dass Kurz-Mitarbeiter M. wenige Tage nach Ibiza unter falschem Namen Festplatten schreddern ließ und das filmte, könnte wohl mit dem aufsehenerregendsten Politvideo der Zweiten Republik zu tun haben.

Da bereits Medien zur Causa recherchierten, mussten rasch Ermittlungsschritte gesetzt werden. Jilek und R. machten sich aus, dass der Polizist eine "freiwillige Nachschau" beim Kurz-Mitarbeiter abhält, während die Staatsanwältin die Voraussetzung für eine Durchsuchungsanordnung prüft. Wenig später meldete sich der Polizist wieder: Er sei bei M. gewesen, dieser habe der Nachschau zugestimmt. Gefunden wurde nichts. Außerdem hatte die Polizei kurz "das Handy zur Verfügung", es aber "dem Beschuldigten wieder zurückgegeben".

Keine Infos an Staatsanwälte

An dieser Stelle entwickeln sich nun eklatante Widersprüche zwischen Soko Tape und WKStA. Staatsanwältin Jilek notierte gleich in ihr Tagebuch: "Ich ersuche den Beamten, dies noch einmal zu überprüfen." Ihr Kollege Gregor Adamovic ergänzte im U-Ausschuss, dass die WKStA gar nicht darüber informiert wurde, dass auch ein Laptop existierte. Diesen stellte der Polizist und ehemalige ÖVP-Politiker R. nicht sicher, weil er in der ÖVP-Parteizentrale bei der Kontaktaufnahme mit M. bereits vom Kurz-Berater Stefan Steiner gesehen worden sein soll.

Im Wortlaut heißt es dazu in seinem Polizeibericht: "Das Einschreiten konnte unter anderem von Hr. Mag. Stefan Steiner und weiteren, vermeintlichen Mitarbeitern der ÖVP wahrgenommen werden. Deshalb erschien ein weiteres Einschreiten als wenig Erfolg versprechend."

Staatsanwalt Adamovic sagte dazu im U-Ausschuss, dass die WKStA zwei Vorfälle besonders gestört hätten: "Das eine war die aus unserer Sicht erforderliche, aber unterbliebene Sicherstellung des Mobiltelefons, und das Zweite war, dass wir gar nicht informiert wurden, dass es dort einen Laptop gibt." Zur Begründung, ein Sichtkontakt mit ÖVP-Mitarbeitern hätte die Sicherstellung des Laptops sinnlos gemacht: "Nach 13 Jahren Staatsanwaltschaft hat man schon einiges, wieso Beweiserhebungen nicht mehr erforderlich sind, gesehen, allerdings: So eine Begründung habe ich noch nicht gesehen." Denn die Beweismittelunterdrückung wäre ja selbst eine Straftat, so Adamovic weiter.

Soko: WKStA hat sich "bedankt"

Soko-Tape-Leiter Andreas Holzer sah das im U-Ausschuss konträr: "Also ich kann nur wiederholen, es ist alles mit der zuständigen Oberstaatsanwältin abgestimmt worden, und vielleicht darf ich noch anmerken – und das wurde auch in einem internen Vermerk festgehalten –, dass sie sich sogar für das umsichtige Vorgehen bedankt hat."

Die weiteren Ermittlungen der WKStA gelangten ab dieser Kontaktaufnahme mit M. in die Warteschleife. Polizist R. unternahm nichts weiter, der Vorfall wurde groß in den Medien gespielt. Unterdessen langte am 1. August eine laut Adamovic "außergewöhnliche" Weisung der Oberstaatsanwaltschaft bei der WKStA ein. Diese besagte, dass die Korruptionsstaatsanwälte das Schredderverfahren in der Zukunft abgeben müssen, wenn kein Zusammenhang zum Ibiza-Video festzustellen ist. "Es war ein Vorgang, wie wir ihn noch nie gesehen haben", so Adamovic zur Weisung. Denn die WKStA hätte das Verfahren ohnehin abgegeben, wenn sie keinen Zusammenhang erkannt hätte.

Was sagte deren Ersteller, Oberstaatsanwalt Johann Fuchs? "Wenn Sie sich die Anordnungen der WKStA (zu der Causa, Anm.) durchsehen, dann finden Sie da noch Sachbeschädigung oder Datenbeschädigung, aber kein einziges Delikt, das in den Kompetenzkatalog der WKStA fällt." Deshalb stellte die Fachaufsicht klar: Wenn ein Bericht des Bundeskanzleramts unter Kanzlerin Brigitte Bierlein keine Anhaltspunkte für eine Zuständigkeit der WKStA liefert, dann muss diese das Verfahren abgeben.

Wochenlanges Warten auf zwei Berichte

Erst Wochen später erhielten die zuständige Staatsanwälte den Polizeibericht von Ex-ÖVP-Gemeinderatskandidat und Strache-Fan R., der später noch aus der Soko versetzt werden wird. Die WKStA erfuhr nun erstmals, dass der Polizist auf die Nachschau in M.s Laptop verzichtet hatte und dass das Mobiltelefon nur rudimentär geprüft worden sei.

Die WKStA entschied sich rasch, nun eine formelle Anordnung zur Sicherstellung zu verfassen. Ein Sprecher der WKStA sagt zum STANDARD: "Eine weitere Kontaktaufnahme zum Ergebnis der Nachschau oder einer möglichen Weigerung des Beschuldigten erfolgte nicht, sodass mangels Information über die weiteren Schritte der Soko keine weitere Anordnung erfolgen konnte. Erst nach diesbezüglicher polizeilicher Berichterstattung wurde eine Sicherstellungsanordnung verfasst."

Smartphone und Laptop des engen Mitarbeiters von ÖVP-Chef Kurz konnten allerdings nie sichergestellt werden. Denn just als die Anordnung abgefertigt wurde, trudelte der Bericht aus dem Kanzleramt ein. Unterzeichnet hatte ihn der Spitzenbeamte G., einst Bürochef von Kurz’ Generalsekretär Dieter Kandlhofer. Auch jetzt ist G. Bürochef des Generalsekretärs, diese Funktion hat mittlerweile Kurz’ einstiger Kabinettschef Bernd Brünner inne.

Kanzleramt: "Videos können weder gescannt noch gedruckt werden"

In dem Bericht wurde erklärt, dass es sich bei den Festplatten um "interne Speicher von Multifunktionsgeräten" handelte, die in den Kabinetten von Bundeskanzler Kurz und dem damaligen Kunstminister Gernot Blümel (ÖVP) standen: "Es darf darauf hingewiesen werden, dass Videos weder gescannt noch gedruckt oder gefaxt werden können."

Weiters: Zwar obliege eigentlich der Gruppe I/C, also der Beamtenschaft, die "Verfügungsgewalt über physische Festplatten", aufgrund des Standorts der Geräte sei jedoch "faktische Verfügungsgewalt" für das Kabinett gegeben. Diese hatte "der für IT-Koordination und Sicherheitsfragen zuständige Kabinettsmitarbeiter Bernd Pichlmayer" inne, der jetzt wieder im Kabinett Kurz tätig ist.

Der zeitliche Ablauf: Die Gruppe I/C schlug "übliche Varianten" bei der Löschung von Daten vor. "Vereinbart wurde der Ausbau der Festspeicherplatten durch den Leasinggeber." Aber dann: "Unmittelbar nach dem geplanten Ausbau der Festspeicherplatten wurde vom zuständigen Mitglied der Kabinette Kurz und Blümel jedoch kurzfristig die Aushändigung der Speichermedien verlangt." Der Gruppenleiter I/C versuchte durch drei Anrufe und physische Kontaktversuche, Kabinettsmitarbeiter Pichlmayer zu erreichen. Erst zeitverzögert kam es zum Rückruf, erstmals erfuhr die Beamtenschaft dadurch von dem Schredderplan, bei dem "Walter Maisinger" zum Einsatz kam.

Dies sei, wie es der Bericht diplomatisch ausdrückt, eine "Abweichung vom Standardprozess" gewesen. Die IT-Experten der Beamtenschaft forderten sofort die Rückgabe der internen Speicher, der Kabinettsmitarbeiter verweigerte das. Verzichtet wurde etwa darauf, dass Sicherheitskräfte den Schreddervorgang begleiten. Ein wichtiger IT-Mitarbeiter der Beamtenschaft erkrankte kurz darauf schwer, Kollegen machen die stressige Situation dafür mitverantwortlich.

Conclusio des Berichts: Es wurde mehrfach vom Standardprozedere der Datenträgervernichtung abgewichen – aber geschreddert hätte man die betroffenen Festplatten so oder so.

Die große Angst vor Leaks

Hinter den Kulissen wird gemunkelt, dass die türkisen Kabinettsmitarbeiter wegen früherer Leaks so gehandelt hätten. So wird vermutet, dass einst interne Planspiele von Kurz-Vertrauten über dessen Weg an die ÖVP-Spitze und schlussendlich die Kanzlerschaft ("Projekt Ballhausplatz") über alte Druckerfestplatten ihren Weg an die Öffentlichkeit fanden. Womöglich hätten sich in den nun vom Schreddern betroffenen Festplatten also Vorbereitungen auf den anstehenden Nationalratswahlkampf oder andere Interna, aber keine strafrechtlich relevanten Inhalte befunden.

Fakt ist, dass es der WKStA durch den Bericht aus dem Kanzleramt nahezu unmöglich gemacht wurde, einen Konnex zwischen der Schredderaffäre und Ibiza zu begründen. Nur wenige Stunden nachdem die Anordnungen zur Sicherstellung von Smartphone und Laptop des Kurz-Mitarbeiters abgefertigt worden sind, wurden sie von der WKStA schon wieder widerrufen. Die Durchführung der Sicherstellungsanordnung konnte "nicht mehr angeordnet werden, da das Verfahren mittlerweile an die Staatsanwaltschaft Wien abgetreten wurde", so die WKStA zum STANDARD.

"Ermittlungen des Bundeskanzleramts"

Auch dort sah man sich durch den Bericht des Bundeskanzleramts nicht in der Lage, große Geschütze aufzufahren. "Die Staatsanwaltschaft kann nicht davon ausgehen, dass das Bundeskanzleramt uns in einem Schreiben wahrheitswidrige Angaben macht", sagte die Leiterin der Staatsanwaltschaft Wien (StA Wien), Maria Luise Nittel, im U-Ausschuss. Die Vorwürfe der Beweismittelfälschung und der Sachbeschädigung seien durch das Schreiben, Nittel wörtlich: "die Ermittlungen des Bundeskanzleramts", entkräftet worden. Es blieb eine Betrugsanzeige, weil der Kurz-Mitarbeiter der Firma Reisswolf rund 80 Euro schuldig blieb. Damit könne man keine Sicherstellung von Smartphones begründen, so Nittel.

Was folgte, war die Einvernahme von M., in der dieser offenbar glaubhaft darlegte, die Rechnung nicht vorsätzlich ignoriert, sondern vergessen zu haben. Während Kanzler Sebastian Kurz in einem Hintergrundgespräch Anfang Jänner 2020 die WKStA kritisierte, schloss die Staatsanwaltschaft Wien das Verfahren gegen M. langsam ab. Exakt an jenem Tag, an dem sich wegen seiner Justizkritik Kurz und Justizministerin Alma Zadic (Grüne) zu einer Aussprache trafen, wurde die Nachricht über die Einstellung des Verfahrens gegen M. publik.

Für M., der im Kanzleramt mittlerweile befördert wurde, ist die Sache allerdings noch nicht ganz erledigt. Sehr zum Unmut der ÖVP haben ihn die Oppositionsparteien für Herbst als Auskunftsperson in den Ibiza-U-Ausschuss geladen. (Fabian Schmid, Renate Graber, 24.7.2020)