Walter Arlen auf Wien-Besuch im Juli vor zehn Jahren. Er wuchs in Ottakring im Kaufhaus seiner Großeltern, Leopold und Regine Dichter, auf. Bis die Familie 1938 enteignet und vertrieben wurde.

Foto: Michael Haas

In ein paar Tagen wird Walter Arlen 100 Jahre alt. Wie geht es ihm? Macht ihn das Ereignis schon langsam nervös? "Es geht, wie es geht", erklärt das Geburtstagskind fernmündlich, lapidar und doch auch recht frohgemut aus dem sonnigen Kalifornien. "Ich denke nicht viel daran. Der Tag kommt von selbst."

Arlen hat von 1951 bis 1980 als Musikkritiker der Los Angeles Times gearbeitet und vor und nach dieser Zeit auch komponiert. Am 31. Juli dieses Jahres, genau an seinem 100. Geburtstag, wird bei "Wien wie noch nie", dem Sommerkino des Filmarchivs Austria, ein neues Werk von Arlen uraufgeführt: seine Musik zum rekonstruierten Stummfilm Die Stadt ohne Juden (1924) von Hans Karl Breslauer.

Emigraton über Triest in die USA

Als Walter Arlen noch Walter Aptowitzer hieß und in Ottakring wohnte, marschierte die deutsche Wehrmacht in Österreich ein. Adolf Hitler und die ihm begeistert zujubelnden Anhänger unternahmen sofort alles, um Wien zu einer Stadt ohne Juden zu machen. Arlens Vater wurde noch am Wochenende des sogenannten Anschlusses in seiner Wohnung verhaftet und in ein Sammellager in der Karajangasse verbracht.

Das Warenhaus Dichter in der Brunnengasse, Ecke Grundsteingasse, das Arlens Großvater gegründet hatte, wurde nur wenig später arisiert, das Vermögen der Familie beschlagnahmt. Arlen musste mit seiner Familie aus dem Haus ausziehen, dem 17-Jährigen gelang es, seine selbstmordgefährdete Mutter in einem Sanatorium unterzubringen. Ein Jahr später verabschiedete er sich am Südbahnhof unter Tränen von ihr, von seiner Schwester und seiner Großmutter und emigrierte über Triest in die USA. Verwandte in Chicago (die Pritzkers – ja, die mit dem Architekturpreis) hatten die Ausreise möglich gemacht.

Erste Rückkehr 1965

Arlen hat als junger Mann erlebt, wie Mitmenschen fast über Nacht zu Unmenschen wurden. Er musste mitansehen, wie die Wiener Machthaber seine Tante und andere Juden das Trottoir der Josefstädter Straße mit ihrem Zahnbürstel putzen ließen. Er musste mitansehen, wie ein älterer Jude vor dem Palais Rothschild von einem SA-Mann zu Tode geprügelt wurde. Bleibt da immer eine Angst, dass die Zügel der Zivilisiertheit, die die Bestie Mensch im Zaum halten, leicht wieder reißen können?

Arlen antwortet auf die grundsätzliche Frage mit einer konkreten: "Was war denn der springende Punkt damals? Sie konnten alles, was den Juden gehört, wegnehmen. Nach dem Motto: Das Geschäft, das dem gehört hat, gehört jetzt mir!" Geldgier als Brandbeschleuniger für den aufflammenden allgemeinen Antisemitismus.

1965, ein Jahr nach dem Tod seines Vaters, kam der enteignete Exilant als erfolgreicher Musikjournalist erstmals wieder zurück in seine Heimatstadt. Mit welchem Gefühl? "Mit einem schlechten. Die Atmosphäre in Wien war unangenehm, die Leute waren unfreundlich. Die Idee, dass die Juden zurückkommen könnten ... Gott behüte!"

Verbindung zur Stadt Wien

Eine partielle Entschädigung für den Besitz der Familie sollte auf sich warten lassen. Und doch ist die Verbindung zur Stadt Wien in den letzten Jahren enger und positiver geworden. Der in der Musikuniversität beheimatete Verein exil.arte hat mit Arlen enge Kontakte geknüpft, Konzerte mit seinen Werken veranstaltet und Stücke aufgenommen. 2011 hat Arlen seinen Vorlass der Wien-Bibliothek vermacht, 2017 haben die Wiener Symphoniker Arlens lyrische Hohelied-Kantate The Song of Songs im Konzerthaus aufgeführt. Der Komponist bezeichnet seine Stücke mit Tonalitätshintergrund selbst als "post-modern", Einflüsse aus seiner alten und neuen Heimat vermischen sich. Seine Musik zum Film Die Stadt ohne Juden, die von Michael-Alexander Brandstetter am Computer für Orchester arrangiert wurde, beschreibt Arlen als "konventioneller als meine Musik im Allgemeinen". Obwohl: Avantgardist sei er eh nie gewesen.

Im letzten Jahr wurde ein Dokumentarfilm über den Welten- und Zeitenwanderer veröffentlicht, Das erste Jahrhundert des Walter Arlen. Stephanus Domanig hat Arlen und seinen Lebensgefährten Howard Myers in Los Angeles und in Wien begleitet, bei Proben, Konzerten und Empfängen, bei Spaziergängen in Ottakring und in Bad Sauerbrunn. Hellwach und mit unverändert wienerischem Idiom erzählt Arlen vor Ort von seiner Familiengeschichte. Es ist ein in mehrerlei Hinsicht berührender Film geworden: als zeitgeschichtliches Dokument und auch als Beziehungsgeschichte.

Der um ein gutes Jahrzehnt jüngere Myers muss als eine gute Seele beschrieben werden, die sich mit rührender Sorgfalt und praktischer Hilfestellung um seinen Partner kümmert; bei Arlen blitzt auch im privaten Umgang noch ab und zu der spitzzüngige Kritiker von einst durch. Kann der Porträtierte diesen Eindruck bestätigen? Arlen weicht aus. "Ich muss immer brav alle Pillen nehmen, die Dr. Myers mir gibt", scherzt er am Telefon. "Jeden Morgen gibt er mir einen ganzen Haufen." Die scheinen ihm aber gutzutun! Leider benötigt "Dr. Myers" gerade selbst der Fürsorge, die beiden halten sich derzeit in San Diego auf, wo sich Howard einer Krebsbehandlung unterzieht.

Besuch bei Thomas Mann

Über ein hundertjähriges Leben gibt es viel zu erzählen, speziell wenn es sich im Rahmen einer so wechselvollen Geschichte ereignet hat wie jenes von Arlen. Aber Arlen erzählt gern. In Chicago arbeitete er erst bei einem Kürschner, dann vier Jahre als kriegswichtig Beschäftigter in einer Chemiefabrik. Eine Depression Arlens wurde mithilfe eines freudianisch geschulten Psychoanalytikers überwunden. Als Assistent des gefeierten Komponisten Roy Harris kam Arlen 1951 nach Los Angeles – gerade noch rechtzeitig zu Arnold Schönbergs Begräbnis.

In weiterer Folge lernte Arlen das Who’s who der im kalifornischen Exil residierenden Emigranten kennen: Er besuchte Thomas Mann in seinem Haus in den Pacific Palisades, er wurde Lion Feuchtwanger in dessen prachtvoller Villa Aurora vorgestellt. Sein erster Artikel für die Los Angeles Times galt einer Uraufführung von Igor Strawinsky, der Cantata 1951. Arlen sollte in den folgenden zwei Jahrzehnten etliche Proben des Komponisten in L.A. besuchen und bis zu dessen Tod mit ihm in Kontakt sein. Von Leonard Bernstein hingegen bekam Arlen nach schlechten Kritiken böse Briefe.

"Gespaltenes Verhältnis"

Den Anfang nahm seine Liebe zur Musik aber natürlich in Wien: Sein Großvater ließ ab 1923 im Warenhaus Dichter Schlager spielen, ein Fräulein Mizzi war als DJane beschäftigt. Der kleine Walter wurde im Kaufhaus ab und zu auf die Budel gehoben und musste singen – weil er es so gut konnte. In Wien lernte er bei einem Fräulein Friedländer Klavier zu spielen (und musste auf trockenen Erbsen knien, wenn er zu wenig geübt hatte), in Wien ging er mit seinem Jugendfreund Paul Hamburger, dem späteren gefeierten Liedbegleiter, in die Oper. Welches Verhältnis hat er heute zu dieser Stadt?

"Ich bin ein Wiener", stellt Arlen auch 80 Jahre nach seiner Vertreibung fest. "Ich habe eine wunderschöne Kindheit in dieser Stadt verbracht. Aber ich werde immer ein gespaltenes Verhältnis zu Wien haben." Man kann es ihm nicht verdenken. (Stefan Ender, 25.7.2020)