Die Entwaldung am Amazonas schreitet ungehindert voran. Bilder wie dieses zeigen die enormen Ausmaße.
Foto: Joao Laet/ AFP

Der Regenwald im Amazonas-Gebiet wurde zuletzt stärker als in den vergangenen zehn Jahren gerodet. Umweltschutzorganisationen wie der World Wide Fund for Nature (WWF) sprechen von Eskalation. Die Zahlen: Laut dem brasilianischen Weltraumforschungsinstitut INPE (Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais, National Institute for Space Research) wurde im vergangenen Juni um 10,7 Prozent mehr gerodet als im Vergleichszeitraum 2019. Wenn die Entwaldung im Juli weiter zunimmt, kommt vor allem Brasilien, auf dessen Staatsgebiet 60 Prozent des Amazonas-Regenwaldes liegen, auf eine jährliche Entwaldung von mehr als 15.000 Quadratkilometern, heißt es beim Amazon Environmental Research Institute (IPAM).

Naturschützer vermuten, dass die verstärkte illegale Abholzung in indirektem Zusammenhang mit der Corona-Pandemie steht. Brasilien verzeichnete bisher knapp zwei Millionen Erkrankungsfälle (nur die USA haben mehr) und mehr als 80.000 Todesfälle, die im Zusammenhang mit der durch das Virus verursachten Erkrankung Covid-19 stehen. Der weltweite Lockdown dürfte das Land besonders getroffen haben. Die Wirtschaft Brasiliens ist allein im ersten Quartal 2020 um 1,5 Prozent gesunken. Und da bedrohte Regionen aufgrund der Vorsichtsmaßnahmen kaum überwacht werden konnten, hatten Menschen, die für illegale Rodungen in den Wald zogen, relativ leichtes Spiel, berichtet der WWF.

Anekdotisches Wissen

Auch der Makroökonom Jesús Crespo-Cuaresma von der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien sieht diese Koinzidenz zwischen Corona und Wirtschaftskrise auf der einen Seite und verstärkter Abholzung auf der anderen. Er betont aber: "Das ist kein durch Studien belegtes Wissen, es basiert ausschließlich auf Erzählungen, erscheint aber logisch: Die Menschen versuchen, ihre persönliche Krisensituation mit dem Verkauf von Holz zu überwinden."

Der Makroökonom Jesús Crespo-Cuaresma vermutet einen Zusammenhang zwischen der Corona-Krise und einem Anstieg bei der Entwaldung im Amazonasgebiet.
Foto: Lukas Pelzl/WU Wien

Der gebürtige Spanier hat sich schon in mehreren Studien mit Waldrodungen beschäftigt. Er war 2017 Erstautor einer Publikation im Fachjournal "Scientific Reports", in der er gemeinsam mit Kollegen des Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse (IIASA) die Waldbedeckung entlang von Landesgrenzen über Satellitendaten untersuchte.

Dabei ging es nicht nur um den Amazonas-Regenwald: Die Grenzen zwischen Brasilien und Bolivien wurden genauso hinsichtlich der Waldbestände analysiert wie jene zwischen Österreich und der Slowakei. Ausgewählt wurden jene Zonen, in denen innerhalb von 50 Kilometern gleiche klimatische und geologische Bedingungen herrschen.

Mehr individuelles Einkommen, mehr Wald

Crespo-Cuaresma konnte feststellen, dass das Pro-Kopf-Einkommen "die robusteste Determinante" ist, um Waldbestände zu vergleichen. Sehr vereinfacht gesprochen, kann man davon ausgehen: Ist das Pro-Kopf-Einkommen hoch, dann gibt es auch mehr Wald. Allerdings dürfte das nicht das Ergebnis einer linearen Entwicklung sein.

Laut Crespo-Cuaresma war die Studie ein großes Naturexperiment, das in den Sozialwissenschaften nur äußerst selten Anwendung findet. Die Wissenschafter konnten auch die nicht unumstrittene Kuznets-Kurve bestätigen, die nach dem Ökonomen Simon Smith Kuznets benannt ist: Sie besagt, grob gesprochen, dass die Umweltzerstörung und die Menge der Emissionen in einer sich entwickelnden Volkswirtschaft zunächst bis zu einem Grad des Wohlstands zunehmen und danach mit weiter zunehmendem Pro-Kopf-Einkommen wieder abnehmen. Von wachsender Umweltzerstörung kann man auch im Amazonas-Gebiet, vor allem in Brasilien reden.

Intensive Entwaldung

Die intensive Entwaldung in armen Ländern mit wachsender Wirtschaft war deutlich zu erkennen. "Wir gehen davon aus, dass die massive Abholzung in armen Ländern durch den Handel mit Holz als Rohstoff und zusätzlich durch niedrige Energiekosten, weil Holz als billigerer Energielieferant gilt, erst stark zunimmt", wurde Crespo-Cuaresma damals in einer Presseaussendung der WU zitiert.

Schließlich erkannten die Wissenschafter, dass ein Bruttoinlandsprodukt von 5.500 Dollar eine Art magische Grenze ist. Ab dann wuchsen die Waldflächen wieder. Und das hofft Studienleiter Crespo-Cuaresma letztlich auch im Zusammenhang für das Amazonas-Gebiet. Länder wie Brasilien brauchen wirtschaftliche Hilfen, um mehr für den Umweltschutz tun zu können.

Wie sich die Landnutzung im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso verändert hat.
Grafik: Camara et al., 2019

In einer aktuellen Studie hat der Ökonom die Entwaldung in dem mehr als 900.000 Quadratkilometer großen brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso untersucht – und die Effekte, die benachbarte Landwirtschaft und Viehzucht darauf haben. Er sagt im Gespräch mit dem STANDARD: "Wir konnten nachweisen, dass es hier Spill-over-Effekte gibt, das heißt: Sojaanbaufelder oder Flächen für die Rinderzucht sind Treiber für die Entwaldung." Laut Crespo-Cuaresma müssten derartige Erkenntnisse in die Politik einfließen.

Dass sich aber Brasiliens ultrarechter Präsident Jair Bolsonaro von derlei Fakten kaum beeinflussen lassen wird, ist dem Wissenschafter schon auch klar. Die Politik sei ein Faktor, der die Rodungen beeinflusst, den man aber in Simulationen und vergleichenden Entwicklungsszenarien rund um die Waldrodungen nicht integrieren kann. Dafür ist sie zu wenig stabil. (Peter Illetschko, 26.7.2020)