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Er galt als Anführer der Widerstandsbewegung, als unerschrockener Kämpfer in der Höhle der Löwen – kein Wunder, dass Mark Rutte, Premierminister der Niederlande, nach seiner Rückkehr aus Brüssel wie ein Held gefeiert wurde: "Rutte hat Rückgrat gezeigt", befand der "Telegraaf". Laut NRC Handelsblad wurde ein "Ministerpräsident noch nie so in die Mangel genommen" – mit einem "historischen Schritt" und einem "neuen Kräftefeld in Europa" als Ergebnis.

Besonders groß war die Begeisterung erwartungsgemäß bei der Vier-Parteien-Koalition in Den Haag – allen voran bei Ruttes rechtsliberaler VVD: Fraktionschef Klaas Dijkhoff hielt es mit der "Bild": "Etwas mehr Rutte täte Europa gut." Der VVD-Abgeordnete Aukje de Vries sprach von einem "echten Husarenstreich. Rutte hat das Beste für uns herausgeholt."

Denn unterm Strich werden die Niederländer in den nächsten sieben Jahren nicht viel mehr an die EU zahlen als bisher. Die Rabatte für Nettozahler wurden nicht abgeschafft, sondern im Gegenteil erhöht – für die Niederländer von 1,6 auf 1,9 Milliarden pro Jahr. Das gilt auch für die EU-Einfuhrzölle: Mitgliedsländer können weiter einen Teil behalten, und der wurde angehoben.

"Mister No"

Im Fall des Corona-Hilfsfonds konnte Rutte mit seinen sogenannten "frugalen" Mitstreitern verhindern, dass dieser nur aus Subventionen besteht. Eine "Notbremse" soll dafür sorgen, dass der Geldhahn zugedreht wird, wenn die erforderlichen Arbeitsmarktreformen nicht durchgeführt werden. Seine als stur kritisierte Haltung hat sowohl das Klischee vom sprichwörtlichen Geiz der Niederländer bestätigt als auch Ruttes Beiname "Mister No".

Die Zeiten, in denen die Niederländer als Mustereuropäer galten, sind spätestens seit 2005 vorbei, als sie sich in einem Referendum gegen die europäische Verfassung aussprachen. Ein zweites Nee kam 2016 zum Assoziierungsabkommen mit der Ukraine. Seitdem üben sich die niederländischen Volksparteien im Spagat.

Anstatt den Wählern klarzumachen, wie sehr ihr Land als Exportnation von der EU profitiert, vermeiden sie es, eindeutig für Europa Stellung zu beziehen – aus Angst, noch mehr Wähler an die Rechtspopulisten zu verlieren. Doch allein auf die Parlamentswahlen im März 2021 lässt sich Ruttes Auftreten in Brüssel nicht zurückführen. Es ging ihm auch nicht bloß ums Geld: "Zusammen mit den anderen Frugalen wollten die Niederländer den beiden großen Ländern Deutschland und Frankreich klarmachen, dass sie die Rechnung nicht ohne die Kleinen machen können", sagt der Historiker Hanco Jürgens vom Deutschlandinstitut in Amsterdam, DIA.

Dafür nahm Rutte in Kauf, dass weniger Geld für Innovationen, Klima und Umwelt bleibt. Und dass Rechtsstaatsgarantien abgeschwächt und damit Zugeständnisse an den ungarischen Premier Viktor Orbán gemacht wurden. Insbesondere die niederländischen Grünen und die Sozialisten haben die Einigung deshalb schwer kritisiert.

Kein Geld aus Hilfsfonds

"Für unser Ansehen war dieser Gipfel alles andere als positiv", fürchtet hingegen der Ökonom Harald Benink von der Universität Tilburg. Langfristig könne er negative Folgen haben, etwa für den Export: "Was, wenn die Italiener zu unseren Blumen und unserem Käse nun auch Nee sagen?" Auch bei den Koalitionsparteien ist Ernüchterung eingetreten. Rutte hat Tabus gebrochen. Gemeinsam Schulden zu machen kam für das Parlament eigentlich nicht infrage, ebenso wenig Subventionen.

Zwar wurde eine Notbremse eingebaut. Aber was, wenn sich nun andere Länder in die Sozial- und Arbeitsmarkt-Politik der Niederländer einmischen? Ruttes Rechtsliberale haben bereits beschlossen, es nicht so weit kommen zu lassen. Sie haben angekündigt, dass die Niederländer keinen Cent aus dem Hilfsfonds in Anspruch nehmen wollen. (Kerstin Schweighöfer aus Den Haag, 24.7.2020)