Kitschige Klaviermusik gegen den Untergang unseres Planeten: Ludovico Einaudi spielt auf einer Plattform für Greenpeace, während das Eis schmilzt.

Foto: Greenpeace / Pedro Armestre

Ligeti, Boulez, Stockhausen, Berio und ihre Nachfolger, die zwischen Donaueschingen und anderen Spezialfestivals Erfolge feiern – sie sind Fälle für die Musikwissenschaft. Wo aber bleibt die mehrheitsfähige Avantgarde? Wo jene Fortschrittswerke, auf die – wie einst bei Brahms, Bruckner und Verdi – gewartet wird? Wo sind die neuen Stücke, die Tonträgern und Streams relevante Zahlen bescheren? Kommerziell gesehen ist die Lösung in den Marketingabteilungen der Labels längst gefunden worden. Das Wort Neoklassik erstrahlt dabei wie eine rettende Sonne.

"Recomposing" als Methode

Von diesem Begriff bestrahlt, werfen Filmmusik, ausgedünnte Minimal Music, Ambient- und Loungeklänge, aber auch funktionelle Meditationsmusik ihre langen Schatten in Konzertsälen. Ihre Protagonisten sind Stars, die gerne am Klavier mit bedeutungsschwerer Geste – und symphonisch eingehüllt – das Klischee des entrückt Musik empfangenden Mediums zelebrieren. Eine ihrer Methoden ist "Recomposing". Tonsetzer können mit ihrer Hilfe leicht an der Inspiration alter Größen teilhaben.

Arash Safaian etwa schrieb die orchestrierte Klavierfantasie This is (not) Beethoven, angeblich inspiriert von jenem Ludwig van, "der kämpfte, scheiterte und nach Freiheit strebte". Es floss aus Safaians Feder allerdings ein Stück, das mit einer Wunschkonzertverniedlichung der Mondscheinsonate beginnt und in atmosphärischen Verrenkungen das Allegretto aus der 7. Symphonie umkreist. In Summe viel Neobarock, Minimal und romantische Träumerei. Beethoven wirkt nicht neu gedacht, vielmehr geschminkt und zur Klangtapete umarrangiert. Safaian ist mit seiner Methode als "Recomposer" nicht allein. Er ist ein Verwandter von Max Richter, der einst Vivaldis Kracher Vier Jahreszeiten in die rhythmische Repetitionsmaschine steckte und dann in meditative Sphären entführte.

Schlaf der Inspiration

Der Brite Richter ist der Genrekönig der Neoklassik, der mitunter auch ehrlich als Entschleunigungsprediger auftritt. Sein achtstündiges Opus Sleep sollte ein "Schlaflied für eine frenetische Welt und Manifest für ein langsameres Tempo unseres Daseins" sein. Und so kam es, dass Konzertsäle als Schlafstätten adaptiert wurden und Stressgeplagte vom Pianisten Richter, den ein Orchester umgarnte, ins Traumland geschickt wurden. Sleep wird als App erscheinen, und es gibt nicht vor, mehr zu sein als Gebrauchsmusik.

MaxRichterVEVO

Richter kann aber auch anders. Er umrankt seine Eingebungen durchaus gerne mit Inspirationspathetik oder ethischen Ansinnen. Demnächst kommt etwa Voices heraus, inspiriert von der Deklaration der Menschenrechte: "Während die Vergangenheit in Stein gemeißelt ist, ist die Zukunft noch zu schreiben. Die Erklärung der Menschenrechte enthält die hoffnungsvolle Vision. Voices ist ein musikalischer Raum, in dem wir uns mit diesen inspirierenden Prinzipien verbinden können", animiert Guru Richter.

Innovation ohne Hörer

Beim Ausschnitt All Human Beings sollen also das Moralische und das Schöne im Sinne der Weltverbesserung verschmelzen. Wieder sind es jedoch vor allem lange Töne, engelhafte Chorflächen und eine sequenzartig aufsteigende Viertonmelodie (erinnert an Queens Powerballade Who Wants to Live Forever), die den Filmmusikkomponisten Richter als Advokaten des Überwältigungskitschs präsentieren. Obwohl sein Anspruch weit über Einschlafmusik hinausragt.

Richter studierte Komposition, lernte auch beim strengen Innovator Luciano Berio. Es heißt, irgendwann habe er jedoch Musik geschrieben, die er selbst nicht mehr verstand, worauf er die Wende vollzog, die ihn berühmt machte. Durchaus nachvollziehbar. Der Druck, innovativ sein zu müssen und dabei eher kein Gehör zu finden, ist groß. Die Vermählung zwischen "mehrheitsfähig" und "innovativ" im strengen Sinne ist nicht mehr zu leisten. So empfand es womöglich auch ein anderer Berio-Schüler, Ludovico Einaudi. Auch er schmückt seine (ohne dazugehörigen Film) bescheiden anmutenden Ideen mit romantischem Pathos.

Traurige Melodie

Mit seiner Kunst, die Triviales auch mit ethischem Engagement würzt, ist er jedoch erfolgreich und viel gereist. Einaudi brachte seine Elegy for the Arctic auf einer Plattform zum Besten, die vor dem Wahlenbergbreen-Gletscher auf Spitzbergen angebracht war. Dieses Plädoyer für die Rettung des drangsalierten Planeten ertönte als traurige Melodie, die an Morricones Soundtrack zu Es war einmal in Amerika erinnert und in putzigen Akkordzerlegungen mündet. Das Stück animiert eher zu melancholischem Eskapismus als zu engagierter Aktion.

Ludovico Einaudi

Es ist somit ein schönes Beispiel für das seltsame Wesen der Neoklassik: Kaminfeuersounds mit musikalischem Einmaleins umgesetzt, werden als absolute Musik präsentiert. Banales kommt tiefsinnig daher. Der musikalische Groschenroman posiert als Meisterwerk.

Filmmusik ohne Film

Es braucht natürlich beides. Sympathischer wirkt es allerdings, wenn die Fusion von Easy Listening und Klassik von jenen kommt, die sich eher dem Popgenre zugehörig wähnen und sich nicht als Puccinis und Mahlers von heute gebärden. Sie sehen ihre Klavierkunst eher als atmosphärische Dienstleistung, wobei so jemand wie der verinnerlichte Isländer Ólafur Arnalds auch im Konzerthaus spielt. Dessen Filmmusik ohne Film und bar großer struktureller Entwicklung verortet sich tendenziell aber doch im Bereich der Jugendkultur. Gut so. Wie auch beim Hamburger Nils Frahm, wobei der schon als "Neuerfinder der Klassik" (Guardian) gehandelt wurde.

SophieHutchingsVEVO

Beim Clubbing trifft Frahm jedenfalls Francesco Tristano: Dieser wollte los vom Historischen ins Poppige und sein Klavier "als protofuturistisches Instrument neu entdecken". Ersteres immerhin gelang ihm. Von dessen jugendlicher Hybris ist die Australierin Sophie Hutchings hingegen frei. Ihr Album Scattered on the Wind präsentiert die Klavierfee aber als ehrliche Dame, die zugibt, von "Ambient und repetitiver Musik besessen zu sein". So klingt das Ganze auch: angenehm, verträumt, ideal als Begleiterscheinung zum Candle Light Dinner.

Die Krise der Avantgarde will sie aber nicht lösen. Bei Max Richter ist man sich da nicht so sicher. (Ljubiša Tošić, 28.7.2020)