Wladimir Putin muss sich bescheidenere Ziele setzen.

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Zwölf Fünfjahrespläne hatte die Sowjetunion pflichtgemäß übererfüllt, ehe ihr bei Versuch Nummer 13 die Luft ausging. Und während in den 1990er-Jahren in Moskau die Bewältigung des schwierigen Alltags kaum Platz für längerfristige Visionen ließ, nahm der Kreml unter Präsident Wladimir Putin seine strategischen Planungen wieder auf.

Am erfolgreichsten erwies sich dabei die gleich zu Beginn der Putin-Ära erarbeitete "Strategie 2010", die laut einem ihrer Autoren, dem damaligen Wirtschaftsminister German Gref, zu immerhin 40 Prozent erfüllt wurde und zumindest eine gewichtige Rolle dabei spielte, Russland in der Finanzkrise 2008 stabil und zahlungsfähig zu erhalten.

Folgenschwerer Ölpreisverfall

Die Nachfolger, nämlich die "Strategie 2020" und dann die als "Mai-Dekrete" verklausulierten Sechsjahrespläne Putins für seine jeweilige Amtszeit, waren weniger effektiv. Weder die Schaffung von 25 Millionen Hightech-Arbeitsplätzen noch die Erhöhung der Reallöhne um 50 Prozent oder die Steigerung der durchschnittlichen Lebenserwartung auf 74 Jahre gelang in angegebenem Zeitraum. Auch die von Putin seit Amtsbeginn immer wieder verkündete Diversifizierung der Wirtschaft läuft langsamer als erwünscht, wodurch der Ölpreisverfall im Zuge der Corona-Krise Russland besonders hart traf.

Schon jetzt ist abzusehen: Die vom Kremlchef geforderte Digitalisierung der Wirtschaft bis 2024 wird sich ebenfalls nicht realisieren lassen. Die ohnehin schleppende Umsetzung des milliardenschweren Programms "Digitale Wirtschaft" wurde durch die Corona-Krise zusätzlich gebremst. Nur eines von zehn Zwischenzielen für das zweite Quartal 2020 wurde so erreicht. Gerade beim Aufbau des für strategisch wichtig erklärten 5G-Netzes gibt es bisher kein Konzept und damit auch keine Investitionsanreize.

Ziellinie wird verschoben

Der Kreml hat auf die bestehenden Probleme reagiert. Im Gegensatz zu früheren großen Ankündigungen über neue Strategieprogramme fast im Vorbeigehen und ohne größere mediale Beleuchtung unterzeichnete Putin ein neues Dekret zur nationalen Entwicklung bis 2030, das die bisherigen bis 2024 geltenden Strategiepapiere ersetzt.

Im Prinzip hat Putin damit wichtige Teile der Strategie eingedampft oder aufgeschoben. Statt neun strategischer Ziele werden nur noch fünf genannt. Unter anderem nimmt Russland von der Idee Abstand, sich in die globalen Top 5 der Volkswirtschaften einzureihen. Kremlsprecher Dmitri Peskow begründete das Verschwinden des Programmpunkts mit der "ungünstigen internationalen Konjunktur".

Präsidentschaftswahl 2024

Andere Änderungen stecken im Detail: So strebt Russland weiter Bevölkerungszuwachs an – nur das Wort "natürlich" ist aus der Strategie verschwunden. Statt besserer Familienpolitik geht es damit um die Einbürgerung von Migranten.

Logisch ist die Neufassung in jedem Fall: Die neuen "nationalen Ziele" wurden quasi unmittelbar nach dem Referendum über die Verfassungsreform deklariert, die es Putin ermöglicht, 2024 noch einmal bei der Präsidentschaftswahl anzutreten. Bei einem Beibehalten der bisherigen Strategie hätte Putin 2024 bei der nächsten Kandidatur erklären müssen, warum er seine Wahlversprechen nicht eingehalten hat. Durch diese Neuformulierung der nationalen Strategie hat er zumindest sechs Jahre Zeit gewonnen. (André Ballin aus Moskau, 29.7.2020)