In Island musste niemand einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Die isländische Designerin Ýr Jóhannsdóttir hat trotzdem einen gemacht, um Menschen an die Abstandsregeln zu erinnern.

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Wer sich an Pandemiespielen wie "Plague Inc." versucht, weiß, dass kleinere Inselstaaten es oft leichter haben, ihre Bevölkerung vor gefährlichen Erregern zu schützen. Island ist von dichtbesiedelten Landmassen weit entfernt und hat selbst im Schnitt nur 3,5 Einwohner pro Quadratkilometer (in Österreich sind es etwa 106). In der Hauptstadt Reykjavík wird es etwas enger. Am größten Flughafen, Keflavik, kommen die meisten Einreisenden an, was die Kontrolle erleichtert.

Doch die Vielzahl der Gäste und die Reiselust der eigenen Bürger bewirkten, dass Island nicht von der Corona-Pandemie verschont wurde. Es gehörte nach einer Weile sogar zu den Spitzenreitern in Europa, was die Infektionszahlen pro Einwohner angeht (513 Fälle pro 100.000). Wie war es trotzdem möglich, nur zehn Todesfälle und damit eine besonders niedrige Covid-19-Sterberate von etwa 0,5 Prozent zu erzielen? (In Österreich liegt sie bei 3,6 Prozent.) Auch fielen die meisten Restriktionen weniger streng aus als hierzulande: Volksschulen und Kindergärten blieben mit Einschränkungen geöffnet, ebenso viele Geschäfte unter Einhaltung der Zwei-Meter-Abstandsregel. Und trotz der jüngsten Funde zweier Cluster konnte die Regierung schon viele Lockerungen vornehmen. Warum?

Ein früher Start

Zu den Gründen zählt die frühe Vorbereitung auf die Krise, sagte Premierministerin Katrín Jakobsdóttir in einem Interview mit dem Magazin "New Yorker": "Wir haben die Nachrichten aus China sehr genau verfolgt. Deshalb begannen unsere Vorbereitungen schon lange bevor der erste Fall hier in Island positiv getestet wurde." Schon seit 2004 arbeitete die Regierung an Krisenplänen für den Fall einer Pandemie.

Ende Jänner 2020 starteten dann die konkreten Vorbereitungen auf das neue Coronavirus. Es gelang, rechtzeitig die medizinischen Mittel aufzustocken. Ab Februar wurden Heimkehrende aus Risikogebieten zwei Wochen in Quarantäne geschickt. Am 28. Februar trat mit dem ersten bestätigten Fall im eigenen Land die Alarmphase ein.

Die Gesundheitsdirektorin Islands, Alma Möller, brachte ein Team ehemaliger Ärzte und Pflegekräfte zusammen, um die Bevölkerung persönlich und proaktiv per Telefon zu beraten. "Wenn du siebzig Jahre alt bist und hohen Blutdruck hast, wurdest du jeden Tag angerufen", sagt Möller, "wenn du jung und gesund bist, vielleicht zweimal pro Woche. Ich bin sicher, dass das zu weniger Aufnahmen in Spitälern und sogar auf Intensivstationen führte."

Wissenschaftliche Leitung und Transparenz

Ende Februar hatte auch die erste tägliche Pressekonferenz stattgefunden, die ein Trio isländischer Fachleute in der Bevölkerung populär werden ließ: Dazu gehören Möller selbst, der leitende Epidemiologe Þórólfur Guðnason und der Landesdirektor für Notfallmanagement Víðir Reynisson. Sie begleiteten das Land durch die Krise und kommunizierten tagesaktuell neue Erkenntnisse und Maßnahmen.

Laut Premierministerin Jakobsdóttir war von Anfang an klar, dass das Unterfangen von wissenschaftlichen und medizinischen Experten geleitet werden sollte: "Diese Experten waren sehr bescheiden. Sie sagten: 'Wir wissen nicht alles über dieses Virus.'" Sie, aber auch die Zuständigen in der Politik überzeugten mit Ehrlichkeit und Transparenz: "Ich denke, eine der Stärken des Prozesses ist auch, dass wir einfach gesagt haben: 'Wir wissen nicht, was als Nächstes passieren wird.'"

Infektionsketten aufgespürt

Von der effektiven Kommunikation zeugt auch die isländische Website rund um das Coronavirus, covid.is. Sie informiert mittlerweile in elf Sprachen übersichtlich zu Sicherheitsmaßnahmen, Statistiken und Einreisebestimmungen für Touristen. Aktuell dürfen Personen aus Österreich und einer Auswahl anderer Länder einreisen, sofern sie sich bei der Ankunft einem kostenpflichtigen Test unterziehen oder sich in eine zweiwöchige Quarantäne begeben. Heimkehrende Isländer und Gäste aus Deutschland, Dänemark, Norwegen und Finnland wurden kürzlich von diesen Schutzmaßnahmen befreit, um die Testkapazitäten nicht zu überlasten.

Das Testergebnis vom Flughafen erfährt man per SMS oder über die Tracing-App "Rackning C-19", die ähnlich wie die österreichische "Stopp Corona"-App sehr früh – Anfang April – startete. Sie erleichtert vor allem die Arbeit des Teams, das in Island seit Beginn der Krise rekonstruiert, mit wem infizierte Personen in Kontakt getreten sind, um auch diese in Quarantäne zu schicken. Bei Verdacht können mit eigener Zustimmung GPS-Protokolle über die Aufenthaltsorte der vergangenen 14 Tage geteilt werden. Die Detektivarbeit des Teams mit rund 50 Mitgliedern war effektiv: Mehr als 95 Prozent der Kontakte wurden aufgespürt und um Isolation gebeten. Hier war wieder die Kooperation der Bevölkerung gefragt.

Kleines Land, großes Testvolumen

Auch die vielen Tests trugen zur schnellen Eindämmung bei. Dreizehn Prozent der Bevölkerung wurden innerhalb der ersten sechs Wochen auf das Virus getestet. Hier half der kooperative Ansatz: Gemeinsam mit dem privaten Forschungsunternehmen Decode Genetics vervierfachten sich die Kapazitäten auf 2.000 mögliche Tests pro Tag. Viele Personen ohne Symptome ließen sich freiwillig testen – so wurde festgestellt, dass etwa die Hälfte der Infizierten keine typischen Beschwerden hat und unbemerkt zur Verbreitung beitragen kann.

Die Strategie des 364.000-Einwohner-Landes ist freilich nicht direkt auf größere Staaten übertragbar. Sehr hoch wäre die Anzahl der nötigen Tests, äußerst kompliziert die Logistik sowie gewisse Datenschutzfragen. Gerade letztere gestalten sich anders in Island, wo laut Gesundheitsdirektorin Möller "jeder jeden kennt" und man in Datenbanken abrufen kann, wie eng man mit potenziellen Partnern verwandt ist. In vielen Aspekten lässt sich dennoch vom vorausschauenden und engagierten Vorgehen lernen.

Neueste Entwicklungen

Nach einer Reihe von Neuinfektionen kehrt Island zu etwas strengeren Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus zurück. Ab 31. Juli werde die maximale Teilnehmerzahl für Veranstaltungen wieder von 500 auf 100 herabgesetzt, kündigte Gesundheitsministerin Svandís Svavarsdóttir an.

Die Zwei-Meter-Abstandsregel sei nun obligatorisch und nicht bloß eine Empfehlung. Restaurants, Bars, Fitnessstudios und Schwimmbäder dürften weiter offen bleiben, sofern sie diesen Abstand und die nötigen Hygienevorschriften gewährleisten könnten. All das gilt zunächst für die nächsten beiden Wochen. Ministerpräsidentin Jakobsdóttir verwies darauf, dass in den vergangenen 24 Stunden zehn neue Coronavirus-Infektionen bestätigt worden seien, darunter eine Person, die ins Krankenhaus gekommen sei. (Julia Sica APA, 30.7.2020)