Marine Le Pen konnte die Corona-Krise nicht nutzen.
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Endlich wieder einmal poltern und vom Leder ziehen! Monatelang gab sich Marine Le Pen betont soft und abgeklärt, um bei den Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren groß zu ernten. Am Dienstag legte sie ihre selbstauferlegte Zurückhaltung ab und präsentierte ein "Schwarzbuch" der Corona-Krise. Auf 168 Seiten listet sie die Versäumnisse, Fehler und "Staatslügen" der Regierung auf. Diese habe noch im März sträflicherweise vom Mundschutz-Tragen abgeraten, allerdings nur, weil sie über zu wenige Gesichtsmasken verfügt habe. Die Vorräte seien nämlich in den Vorjahren abgebaut worden.

Frankreich sei damit "vom Fiasko in den Abgrund" geraten, sagt Le Pen, um als Hauptschuldigen den Staatschef zu orten. "Emmanuel Macron betreibt eine künstliche Kommunikation und maßt sich das Image eines Landesvaters an", meint seine Widersacherin in der präsidialen Stichwahl vor drei Jahren. 2022 will sie die Revanche.

Wettern gegen "liberale Eliten"

Ihre Berater behaupten, Macron sei durch die Gelbwestenkrise, die Rentenreform-Proteste und Covid-19-Invasion "erledigt"; Le Pen hingegen profitiere vom wachsenden Misstrauen der Franzosen gegen die "liberalen Eliten".

In Wirklichkeit gelingt es der Chefin des Rassemblement National (RN) kaum, sich als seriöse und mehrheitsfähige Alternative zu Macron zu inszenieren. Nur 20 Prozent der befragten Franzosen denken, dass sie die Corona-Pandemie besser gemeistert hätte.

"Die Krise unterstreicht die Schwäche der Extremen", folgert der Politologe Pascal Perrineau. Das gelte in Frankreich für Le Pen wie für Linkenchef Jean-Luc Mélenchon, in Italien für Matteo Salvini und in den Niederlanden für Geert Wilders; und für die deutsche AfD, die spanische Vox oder die österreichische FPÖ.

Wenn sich auch Macron in der aktuellen Krise nicht eben als geradlinig erwiesen hat, trifft dies noch stärker auf Le Pen zu. Mit ihrem Vorwurf systematischer Lügen macht sich die Parteichefin zur Verschwörungstheoretikerin. So klingt sie nicht gerade staatstragend. Auch wettert sie gegen Mi granten, Muslime und offene Grenzen – und verurteilt im gleichen Atemzug Antisemitismus und Rassismus.

Es rumort in der Partei

Im Juni überraschte sie mit einer Hommage an Charles de Gaulle; zugleich verurteilte sie die Judenverfolgung durch das Vichy-Regime im Zweiten Weltkrieg. Damit brüskierte sie viele Veteranen ihrer Partei, die aus Vichy-Sympathisanten hervorgegangen war und de Gaulle wegen der Aufgabe Algeriens als Verräter an der Nation sehen.

In ihrer Partei rumort es aber auch aus anderen Gründen. Ohne es offen zu sagen, zweifeln viele RN-Mitglieder daran, dass ihre Chefin 2022 eine bessere Siegeschance als 2017 hat. Damals hat die 51-Jährige schwache Nerven gezeigt und das entscheidende TV-Duell gegen Macron verpatzt.

Noch kontrolliert Le Pen ihre Partei, keinerlei Kritik dringt nach außen. Jüngere Mitglieder setzen aber heute schon auf ihre 30-jährige Nichte Marion Maréchal. Sie fährt einen härteren Kurs und ist bei den explizit Rechten sehr populär. Auch wenn sie sich aus der Tagespolitik heraushält, weiß sie Schlagzeilen zu setzen. So erklärte sie unlängst, sie schäme sich nicht, eine "Weiße" zu sein. Tante Marine hielt ihr vor, das sei nicht gerade "republikanisch" und "verfassungskonform".

Die Nichte wartet ab

Während Maréchal noch jung genug ist, um langfristig zu denken und zu planen, bringen sich die RN-Alliierten bereits jetzt in Stellung – gegen Le Pen. Der Rechtsaußen Nicolas Dupont-Aignan, der bei den Präsidentschaftswahlen 2017 4,7 Prozent der Stimmen erzielt hat, schlägt interne Vorwahlen vor; Florian Philippot von Les Patriotes hat bereits seine Bereitschaft dazu erklärt. Die Rechtspolitiker Philippe de Villiers und Jean-Frédéric Poisson wollen auf jeden Fall kandidieren. Sie könnten Le Pen immerhin ein paar Prozentpunkte abluchsen.

Robert Ménard, der parteilose rechte Bürgermeister von Béziers, will zwar nicht selbst antreten, lehnt aber eine weitere Kandidatur von Marine Le Pen ab. "Das wäre die Garantie", meint er, "dass Macron wiedergewählt würde." (Stefan Brändle aus Paris, 29.7.2020)