Nur wenige Stunden blieben den Menschen, um zu verschwinden. Die Zelte sammelten anschließend Helferinnen und Helfer ein.

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"Zwölf Stunden ab dem Plakatanschlag": so lange gab Präfekt Didier Lallement den 1.500 Äthiopiern, Tschadern, Sudanesen und Afghanen am Dienstagnachmittag Zeit, um ihre Zeltburg in Aubervilliers zu verlassen. Am Mittwochmorgen um 4.30 Uhr fuhren die Polizeilaster vor. Hunderte von Ordnungshütern umzingelten das ausufernde Lager zwischen Autobahn und Stadtkanal. Zwei Stunden später erfolgte der Räumungsbefehl.

Die meisten Migranten waren noch präsent; sie hatten gar keine Zeit gehabt, sich in Luft aufzulösen. Behördenvertreter forderten sie auf, in die ankommenden Fahrzeuge zu steigen. Zugleich erhielten sie Schutzmasken und Desinfektionsgel. Georges-François Leclerc, der Präfekt des Departementes Seine-Saint-Denis, in dem Aubervilliers liegt, ließ die Migranten mit möglichen Corona-Symptomen von den anderen trennen. Er kündigte "massive" Tests für die meisten der 1.500 Zeltbewohner an.

Der Abtransport der Familien ging problemlos vonstatten. Im Männerlager auf der anderen Seite des Kanals gab es allerdings Pfiffe und Rangeleien, als der Polizeikordon Druck zu machen begann.

Sammelpunkt von Menschen

Die Aktion im armen Nordosten von Paris ist nicht die erste ihrer Art. Die Stadt ist in den vergangenen Jahren zu einem Sammel- sowie Treffpunkt von Migranten geworden. Einige sind auf dem Weg nach Calais am Ärmelkanal, von wo aus sie nach England übersetzen wollen. Andere hoffen in der Pariser Agglomeration – der Wirtschaftslunge Frankreichs mit zehn Millionen Einwohnern – auf Arbeit.

Die jüngste Räumung in Aubervilliers erfolgte auf Drängen von Anwohnern und der Bürgermeisterin. Sie beschwerten sich über die prekären Gesundheitsbedingungen und zunehmende Spannungen unter den einzelnen Nationalitäten. Präsident Emmanuel Macron konnte nicht länger zuschauen, nachdem er in der Flüchtlingsfrage einen härteren Kurs angekündigt hatte. Allerdings vermag er auch nicht anzugeben, was mit den 1.500 Menschen passieren soll.

Fehlender Plan

Die Rechtsparteien werfen Macron vor, er betreibe mit der Lagerräumung Schaumschlägerei. "Sehr gut", kommentierte der Rechtsaußen Robert Ménard den Abtransport der Migranten. "Aber wohin mit ihnen?"

Auf der Linken tönt es ähnlich – wenngleich aus ganz anderen Motiven. Die Evakuierung des Lagers sei eine pure Menschenpflicht gewesen, erklärte die Partei Unbeugsames Frankreich. Eine Vertreterin des Hilfswerkes Terre d'Asile schüttelte aber den Kopf: "Wir wissen nicht einmal, wo die Leute hingebracht werden." Auf der Windschutzscheibe eines Fahrzeugs stand der nichts sagende Bestimmungsort: "Transfert Île-de-France", also etwa: "Transfer in die Region Paris."

Teufelskreis für Migranten

In früheren Fällen waren die Migranten in einem ersten Schritt häufig in Turnhallen untergebracht worden. Aber nur so lange, wie die dazugehörige Schule geschlossen war. Die französischen Asylzentren sind bereits überfüllt. Um Asyl hatten viele Migranten bereits anderswo ersucht. Nach dem Dublin-Abkommen der EU müssten sie eigentlich in ihr Ersteintrittsland – Griechenland oder Italien – zurückgeführt werden. In der Praxis wird das Prinzip aber kaum befolgt; und wenn, kehren die Migranten bald zurück.

Eine Vertreterin des Hilfswerkes Utopia 56 warf den Behörden am Mittwoch vor, sie verhielten sich bewusst "völlig undurchsichtig": "Man gruppiert die Leute und verfrachtet sie an einen Orten, ohne ihnen zu sagen, was vor sich geht, wohin sie gehen. Die meisten finden sich irgendwann wieder auf der Straße vor. Das ist ein Teufelskreis."

Noch bevor die Räumung zu Ende war, begaben sich Vertreter mehrerer Hilsorganisationen bereits in das verlassene Lager, um die 600 leeren Zelte einzusammeln. Das stelle immerhin einen Wert von 9.000 Euro dar, sagte eine Helferin, um vorherzusehen: "In einigen Wochen werden die jetzt abtransportierten Leute die Zelte wieder brauchen." Dann, wenn die Sisyphus-Migranten im Nordosten von Paris das nächste Lager aufziehen. (Stefan Brändle aus Paris, 29.7.2020)