Was es dringend braucht, ist eine Sozialdemokratie "alten Schlags", so der Publizist Nils Heisterhagen und der burgenländische SPÖ-Landesgeschäftsführer Roland Fürst im Gastkommentar. Lesen Sie dazu auch die Replik von Andreas Mailath-Pokorny, "Zuerst die Vision, dann der Realismus".

Wie kommt die SPÖ wieder in die Regierung? Mit dem Thema Arbeitszeitverkürzung nicht, kritisiert Landeshauptmann Hans Peter Doskozil seine Parteichefin Pamela Rendi-Wagner.
Foto: STANDARD / Matthias Cremer

Die Situation der SPD und der SPÖ ist vergleichbar. Die konservativen Parteien CDU/CSU und ÖVP liegen jeweils um die 40 Prozent weit vorne, während die Grünen eher Richtung 20 Prozent und die sozialdemokratischen Parteien eher Richtung 15 Prozent – in Deutschland sogar darunter – gehen.

Das eigene Tappen im elektoralen Niemandsland wird von den sozialdemokratischen Parteizentralen zurzeit mit der wehmütigen Klage weggewischt, dass junge, urbane, zumindest irgendwie progressiv vermutete Wähler nun mal zu den Grünen gingen, während auf dem Land und in den Mittelstädten die Menschen lieber die Konservativen bevorzugten. Also sei die Sozialdemokratie zerquetscht in der Mitte quasi ohne Auftrag. So bemitleidet sich die Sozialdemokratie wehleidig selbst, ohne den Willen erkennbar zu zeigen, strategisch, personell und programmatisch wieder aus der Zwickmühle gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und substanzieller Leere herauszukommen.

Moralgesäuertes Gezwitschere

Doch in der Leere gibt es Lautstärke und moralgesäuertes Gezwitschere, und zwar von denen, die wir die Social-Media-Bekenntnis-Linke nennen: Die neuen urbanen Sozialdemokraten – überdominant, weil überdominant sichtbar mit ihren Social-Media-Accounts – wollen so immer mehr Wähler dazu bringen, ihre ganz persönliche Haltung zu beklatschen. Man will den Wähler nicht mehr in dessen Interessen erreichen oder abholen, sondern der Repräsentierte soll mit dem Repräsentanten total verschmelzen – und zwar anhand der eigenen Werte und eben nicht der Interessen.

Vielen geht es mehr um ihren eigenen "linken Lifestyle" und das Prinzip, reale Probleme der Menschen scheinen ihnen oft nebensächlicher. Bei den Grünen-Funktionären und manchen ihrer Wähler klappt diese Verschmelzung sogar zuweilen ganz gut. Gesunde vegetarische Ernährung, ein bisschen Yoga, Entschleunigungsprosa und Klimabewusstsein reichen für manche schon, bei den Grünen ihr Kreuz zu machen. Lebensführung übersetzt sich dann in politischen Zuspruch. Das sind vor allem postmaterialistische Schichten, die sich um ihr eigenes ökonomisches Befinden keine Gedanken machen müssen. Da können andere Dinge auch wichtiger werden, wenn man keine Existenzängste hat.

Irre Koalition

Die neuen Sozialdemokraten stellen sich hier strategisch dümmer an. Die neuen Hauptstadtfunktionäre sind im festen Glauben, eine irre Koalition von Sozialhilfeempfängern und der oberen Mittelschicht zusammenschrauben zu können, indem sie den einen die vermutete Haltung und den anderen das Geld geben. Das war vor Jahren noch anders. Da forcierte man einen "progressiven Neoliberalismus" (Nancy Fraser). Der neue ökonomische Schwenk nach links ist insofern richtig. Nur erreicht er nicht die Kernklientel.

Denn: Die neuen Sozialdemokraten vernachlässigen die untere Mittelschicht und die materialistisch orientierte obere Mittelschicht ökonomisch wie habituell. Aber auch bei den oft als diffamierend bezeichneten "Abgehängten" erreichen sie kaum jemanden, weil diese sie nicht als ihre natürlichen Verbündeten ansehen, sondern als Almosenverteiler mit privilegiertem Leben.

Kein Emanzipationswille

Die Sozialdemokraten zeigen keinen Emanzipationswillen mehr für die abgehängten Schichten, diesen zum Aufstieg zu verhelfen. Zur Erinnerung: Die Arbeitervereine der frühen Sozialdemokratie waren genau das: Bildungsvereine für sozialen Aufstieg und mehr gesellschaftliches Gewicht gegen die formell gebildete Bourgeoisie. Wissen ist Macht. Die Arbeiterbewegung wusste es einmal. Leistung, Aufstieg, Sicherheit. Das war das erfolgreiche Credo der Sozialdemokratie von Bruno Kreisky und Willy Brandt.

Heute ist das anders. So manche Vertreter der alten Arbeiterparteien reden lieber über Mittel des Sozialstaats als über Mindestlöhne, was arbeitende Geringverdiener noch mal insofern enttäuscht, weil sie glauben, dass sie mit Sozialhilfeempfängern gleichgesetzt werden. Die Sozialdemokratie muss für alle ein besseres Leben erkämpfen. Aber Wähler registrieren schon oft sehr genau, wer wie über was redet. Und bei den neuen Sozialdemokraten spüren viele einen Pseudomaterialismus, der eine rein theoretische Akademikerveranstaltung ist. Sowohl die "abgehängten" Schichten spüren es, als auch Handwerker, Krankenschwestern, Facharbeiter, Lageristen, Polizisten, also die nicht akademische Mittelschicht, die durch Umwälzungen in der Welt, steigende Mieten, geringe Lohnsteigerungen oder Arbeitsplatzabbau sich ihres sicheren Platzes in der Gesellschaft beraubt sieht.

Bloßer Politikersatz

Und die Sozialdemokratie holt sie nicht ab, sondern schwätzt ihnen theoretisch etwas vor. Sie hat die Glaubwürdigkeit und Authentizität verloren, weil Rhetorik Substanz ersetzt hat. Was wir brauchen, ist eine Sozialdemokratie "alten Schlags" und vernünftiger Rückbesinnung. Man findet sie noch im Burgenland, in Niedersachsen oder in Teilen Nordrhein-Westfalens, Hamburgs oder Brandenburgs. Da gibt es noch eine Sozialdemokratie, die die Breite der Gesellschaft anspricht und auch personell abbildet und die auf Symbolpolitik zugunsten von normativer Politik verzichtet, denn Politikersatz ist nun mal keine Politik. Mehr Mindestlohn und gerechte Besteuerung zu verlangen und auch umzusetzen, eine gute Wirtschaftsförderung mit klugen Ideen zu betreiben und die innere Sicherheit zu gewährleisten, dies hingegen ist Politik.

Linke Realpolitik, von der die Menschen etwas haben. Davon braucht die Sozialdemokratie mehr. Oder eben Sozialdemokraten "alten Schlags". Nämlich den Materialisten, den Arbeiter der Politik, den Macher, den Reformer. Politiker sollten etwas für Menschen erreichen wollen. Dafür werden sie gewählt, um in einem insgesamt reaktionären Globalgefüge vorwärts zu blicken und Hoffnung zu vermitteln. Wer das nicht versteht, soll halt freier Schriftsteller oder Freizeitpolitikkommentator bei Twitter werden oder eine Sekte gründen, aber doch bitte nicht ein politisches Mandat verlangen. (Nils Heisterhagen, Roland Fürst, 30.7.2020)