Wollte Wirecard seine guten Kontakte in die heimische Politik nutzen, um eine App für den Zahlungsverkehr von Asylwerbern einzuführen? Das legen E-Mails und Präsentationen nahe.

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Es folgt eine Geschichte mit einigen überraschenden Wendungen. Eine Wendung, wie sie alle Geschichten haben, die den gestürzten Finanzkonzern Wirecard und die heimische Politik betreffen.

Der Beziehung zwischen österreichischen Parteien, Behörden und dem deutschen Zahlungsanbieter mit ehemals Wiener Führungsspitze sollte am Dienstagabend im Nationalen Sicherheitsrat nachgegangen werden. Einberufen hatte das Gremium vor zwei Wochen die ÖVP, begleitet von einer Pressekonferenz ihrer Vizegeneralsekretärin Gaby Schwarz. Dort machte Schwarz der FPÖ schwere Vorwürfe, weil der flüchtige Wirecard-Finanzchef Jan Marsalek offenbar Informationen aus dem Verfassungsschutz an den blauen Klubobmann Johann Gudenus weiterleitete.

Als das am Dienstag besprochen werden sollte, tauchte Schwarz aber nicht auf – genauso wenig wie der türkise Sicherheitssprecher Karl Mahrer, Außenminister Alexander Schallenberg und Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP). Letzterer war kurzfristig erkrankt, was die Abgeordneten aber erst beim Sicherheitsrat erfuhren, dem Büro des Nationalen Sicherheitsrates aber schon am Nachmittag mitgeteilt wurde. Die Opposition erkannte die Sitzung daher nicht an und zog aus; insgesamt fehlten auch aus den Reihen der Opposition einige Vertreter.

App für Grundversorgung

Dadurch wurden einige Themengebiete nicht angesprochen. Etwa das Gerücht, dass im damals blauen Innenministerium unter Herbert Kickl eine Refugee-App mit Wirecard geplant worden sei. Asylwerber sollten ihre Grundversorgung darüber erhalten, die "Refugee Card" sollte also wie eine Art Bankomatkarte funktionieren. Ziel war einerseits, Schwierigkeiten bei der Bankkonto-Eröffnung zu umgehen, andererseits aber auch Überweisungen in das Ursprungsland zu verhindern.

Offenbar hatten sich eher der ÖVP zugeneigte Beamte im Innenministerium nun wieder an diese Episode erinnert, Türkis wollte sie jedenfalls am Dienstag thematisieren. Das Innenministerium, jetzt von Karl Nehammer (ÖVP) geleitet, bestätigte dann auch offiziell, dass das damalige Kickl-Ministerium bis Februar 2019 Gespräche über eine Refugee-App geführt hatte. Im Büro Kickls, der heute wieder freiheitlicher Klubobmann ist, zeigte man sich anfangs überrascht, konnte die Gespräche dann aber wieder rekonstruieren.

Und siehe da: Die Empfehlung, mit Wirecard-Partner Ebcon Gespräche über eine Refugee-App zu führen, gelangte vom türkisen Kanzleramt ins Kickl-Ministerium. Eine Kabinettsmitarbeiterin vom damaligen Kanzleramtsminister Gernot Blümel leitete den Kontakt weiter und bohrte auch im Innenministerium nach, wann denn ein Termin erfolge.

Auf ihrer Webseite wirbt die bayrische Ebcon auch stolz damit, im Bundeskanzleramt und später im Innenministerium "Expertenhearings" zu ihrer Refugee-App veranstaltet zu haben. Diese soll bereits in einigen Landkreisen in Bayern im Einsatz sein. Das Kanzleramt sagt dazu, dass die Mitarbeiterin den Ebcon-Kontakt an die zuständige Stelle, nämlich das Innenministerium, weitergeleitet habe. Weitere Terminanfragen an das Kanzleramt habe man abgelehnt.

Formell lässt sich keine Verbindung zwischen diesem Projekt und den Avancen des flüchtigen Finanzchefs Marsalek finden. Dieser war im Innenministerium, um für sein Grenzschutzprojekt in Libyen zu werben – dort wollte er offenbar mit privaten Söldnern Flüchtlingsströme kontrollieren.

Achse nach Russland

Marsalek wird nachgesagt, enge Beziehungen zum russischen Geheimdienst gehabt zu haben. So prahlte er laut "Financial Times" vor Londoner Brokern mit Geheimdokumenten bezüglich des Nervengifts Nowitschok. Die Indizien dafür, dass Marsalek wohl auch über gute Quellen im heimischen Verfassungsschutz verfügte, lassen im Innenministerium seit Wochen die Alarmglocken schrillen. Vertrauliche Unterlagen zu Nowitschok soll Marsalek aus Österreich erhalten haben, berichtet die Tageszeitung "Österreich". Sie beruft sich auf eine Anzeige von Außen-, Verteidigungs- und Wirtschaftsministerium. Allen drei Ministerien würden die an Marsalek geleakten Unterlagen vorliegen: Darin enthalten sei unter anderem die Formel für das noch in der Sowjetunion entwickelte Nervengift Nowitschok.

Brisant sind solche Verbindungen in Bezug auf die Refugee-App. So wird vermutet, dass Marsalek über das Projekt an Daten von Asylwerbern gelangt wäre. Russland hat beispielsweise besonderes Interesse an Flüchtlingen aus Tschetschenien. Eine Analyse von Flugbewegungen legt nahe, dass sich Marsalek derzeit in Russland versteckt.

Heimische Behörden setzen allerdings schon länger auf Wirecard-Technologie. Der nun wieder festgenommene Ex-Firmenchef Markus Braun, ein gebürtiger Österreicher, war in Wien gut vernetzt. Er saß beispielsweise in Think Austria, dem türkisen Thinktank des Bundeskanzleramts. Ob Braun von den zwielichtigen Machenschaften seines Finanzvorstands Marsalek – ebenfalls ein Österreicher – Bescheid wusste, ist derzeit Gegenstand von Ermittlungen, es gilt die Unschuldsvermutung.

Wirecard galt jahrelang als deutsche Zukunftshoffnung in der Techbranche, obwohl es immer wieder Indizien für Malversationen gab. Im Frühjahr platzte dann die Blase: Prüfer entdeckten, dass das Unternehmen im großen Stil Bilanzfälschung betrieben hatte. Seitdem hatten die deutschen Ermittler Festnahmen angeordnet und zahlreiche Razzien durchgeführt. Schnell erreichte die Affäre auch Österreich; nicht zuletzt durch Whatsapp-Chats auf dem Smartphone von Johann Gudenus, der Marsalek offenbar kannte. Über die Refugee-App will Gudenus nichts gewusst haben. (Fabian Schmid, red, 29.7.2020)