Hat bei Wirecard niemand die Alarmzeichen gesehen? Das wollten die Abgeordneten des Deutschen Bundestages am Mittwoch wissen.

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Der Mittwoch begann für den deutschen Finanzminister Olaf Scholz (SPD) geradezu ideal. Er durfte sich ein bisschen als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland fühlen. Da die tatsächliche Amtsinhaberin, Angela Merkel, auf Sommerurlaub ist, leitete Scholz in seiner Eigenschaft als Vizekanzler die Kabinettssitzung.

Er will ja gerne aufsteigen – vom Finanzminister zum Kanzler nach der Bundestagswahl 2021. Doch am späten Nachmittag wurde Scholz deutlich vor Augen geführt, dass bis dahin ein – wenn überhaupt – sehr weiter Weg zu gehen wäre.

Am Nachmittag nämlich musste er sich in einer Sondersitzung des Bundestags-Finanzausschusses von den Abgeordneten der Opposition grillen lassen. So wird eine beharrliche Befragung in Berlin genannt, und diese war für Scholz deutlich unangenehmer als die Kabinettssitzung am Morgen.

Ein einziger Tagesordnungspunkt

Nur einen einzigen Tagesordnungspunkt hatten die Abgeordneten festgelegt: "Aktueller Sachstand zu den Vorkommnissen bei der Wirecard AG." Sie versuchen seit Wochen herauszufinden wie der einstmals gefeierte Finanzdienstleister und Star im deutschen Börsenleitindex DAX mit gefälschten Bilanzen durchkommen konnte – so lange, bis ein 1,9-Milliarden-Euro-Loch das in Aschheim bei München ansässige Unternehmen zu Fall brachte. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt wegen des Verdachts des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs.

Scholz ist im Visier, weil seinem Finanzministerium die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) unterstellt ist. Die Opposition wirft ihm vor, nicht ordentlich kontrolliert zu haben. "Ich sehe Anzeichen, dass hier fahrlässig gehandelt wurde", sagt der Grüne Finanzexperte Danyal Bayaz.

Bei der FDP gibt Stimmen, die meinen, Wirecard sei politisch geschützt worden. Schließlich habe man lange auf einen deutschen Internettechnologiekonzern verweisen könne, der in der ersten Liga mitspielt. So hatte Merkel noch im September 2019 in China für den Konzern geworben.

Anzeige gegen Journalisten

Zwar hat die BaFin, als die Vorwürfe immer massiver wurden, die Prüfstelle für Rechnungslegung mit einer Prüfung von Wirecard beauftragt. Doch dort war 16 Monate lang nur ein einziger Mitarbeiter für die Causa zuständig. Untätig war die BaFin nicht: Sie erstattete im April 2019 Anzeige gegen zwei Journalisten der "Financial Times", die immer wieder kritische Artikel über Wirecard veröffentlichte. Der Verdacht der BaFin: Die Journalisten würden mit Spekulanten zusammenarbeiten, die auf fallende Aktienkurse setzen.

Noch bevor sich Scholz am Mittwoch den Fragen der Abgeordneten stellte, gab er für sich selbst folgendes Motto aus: "Es gibt nur eine einzige Vorgehensweise: voran, nichts verbergen, aktiv an der Spitze der Aufklärung stehen und dafür zu sorgen, dass alle Sachen geklärt werden", sagte er.

Auch nach seiner vierstündigen Befragung durch den Ausschuss betonte der Minister: "Wir haben sehr viele Details erörtert." Alle müssten jetzt "einen Beitrag" zur Aufklärung leisten. Er wolle Reformen bei der BaFin, so solle sie "mehr Testinstrumente" bekommen.

Wenn Scholz Ernst macht mit seinem Versprechen für Aufklärung, dann dürfte auch BaFin-Leiter Felix Hufeld stärker ins Blickfeld rücken. Dieser hat vor kurzem, im Finanzausschuss des Bundestages, unrichtige Angaben zu Wirecard gemacht. Am 1. Juli hatte er in dem Gremium behauptet, die BaFin warte "bis heute auf eine Antwort" der Polizei in Singapur. Danach räumte die Behörde ein, die Bankenaufsicht und die Polizei in Singapur hätten seit Anfang 2019 mit der BaFin kooperiert.

Hufeld wehrt sich gegen Vorwürfe

Hufeld weist die Vorwürfe gegen sein Haus aber ohnehin zurück: "Wir erfüllen genau die Aufgaben, die uns der Gesetzgeber vorgibt – alles andere ist in einer Demokratie nicht zulässig." Die BaFin habe nur kleine Teile von Wirecard, nämlich die Banktochter, kontrollieren dürfen.

Und diese habe "eher unauffällig" agiert. Wenn die BaFin mehr prüfen solle, dann müsste zuerst die Politik tätig werden. Hufeld: "Der aufsichtliche Werkzeugkasten muss hier nachgeschärft werden." Scholz hat bereits eine Reform der Behörde angekündigt, er versucht aber auch den Ball weiterzuspielen und erklärt: "Das, was uns jetzt am allermeisten bewegen muss, ist, dass eine ziemlich große, sehr effiziente Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zehn Jahre lang prüft und nichts herausbekommt."

Hintergrund: Die Aufsicht über die privaten Wirtschaftsprüfungsunternehmen – im Fall von Wirecard war es Ernst & Young (EY) – obliegt nicht dem Finanzminister, sondern dem deutschen Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). EY hatte Wirecard zunächst jahrelang ohne Beanstandungen geprüft. Altmaier war am Mittwoch ebenfalls im Finanzausschuss des Bundestags geladen, um Licht ins Dunkel dieses größten Bilanzskandals in Deutschland zu bringen.

Wohl kein U-Ausschuss

Am Abend, als die Befragung noch andauerte, zeichnete sich schon ab dass die Opposition auf einen U-Ausschuss verzichten könnte, wenn weitere Sondersitzungen des Finanzausschusses zu Aufklärung führen. Bei den oppositionellen Grünen wurde durchaus konstatiert, dass Scholz nicht mauere, man daher der Bundesregierung noch Kredit gewähren wolle. (Birgit Baumann aus Berlin, 29.7.2020)