Im Gastkommentar zeichnet der Schuldirektor und Favoritner Niki Glattauer ein Bild von einem Bezirk, der viel zu oft unter seinem Wert gehandelt werde.

Der Viktor-Adler-Markt in Wien-Favoriten: Waren früher die Tschechen die größte Zuwanderergruppe im Bezirk, so sind es heute die Serben und Türken.
Foto: Christian Fischer

Den gelungensten Beitrag zum Thema "Zuwanderer, huch!" fand ich im STANDARD online, wo Olivera Stajić eine ihrer "Gemišt"-Kolumnen mit einem Zeitungsausschnitt beschloss: "Er schreit auf den Straßen Wiens in tschechischer Sprache, er spricht jeden tschechisch an, und wenn ihrer mehrere beisammen sind, singen sie auf offener Straße tschechische Volks- und deutschfeindliche Lieder. Die tschechischen Lehrlinge assimilieren sich nicht an die deutsche Umgebung, sie bleiben Vollbluttschechen." (Znaimer Wochenblatt, 8. Februar 1913).

Vor 100 Jahren waren die "bösen Buben" Wiens noch die Tschechen – das "böse Wien" aber damals schon Favoriten. Denn "im zehnten Hieb" lebten sie, die "Vollbluttschechen", als Nachkommen der aus Böhmen und Mähren zugewanderten "Ziagelbehm", darunter auch meine eigene Mischpoche: Polišenskys, Sykoras, Klattauer. Standesgemäß war meine erste Jugendliebe eine Sklenička. Ich erinnere mich, dass die schöne Johanna den hässlichen Hatschek in ihrem Namen nicht mochte. Statt ihre Lippen für ein strammes tsch zu schürzen, intonierte sie breitmundig Sklenitzka.

Ausgezuzelte Kerne

Wir Glattauer-Buben sind auch ohne Hatschek stolze Söhne Favoritens, aufgewachsen am Eisenstadtplatz, in einem Gemeindebau am Rand einer Gstätten, in der man Kren ausgraben und Erdbeeren klauben konnte. Heute kannst du im Alfred-Böhm-Park, wie die "große Wiese" von damals jetzt heißt, ausgezuzelte Sonnenblumenkerne aufklauben, die die herumliegenden Tetrapackungen Eistee-Pfirsich garnieren, immerhin: Einweggebinde für bewusstseinsverändernde Substanzen findest du da immer seltener: verträgt sich nicht mit dem Propheten …

Bildeten einst die Tschechen die größte Zuwanderer-Community Favoritens, sind es heute gleichauf Serben und Türken. Ihrer Zahl geschuldet wäre der zehnte Bezirk, wäre er eine eigene Stadt, heute mit 205.000 Einwohnern die drittgrößte Österreichs, nach Graz, aber noch vor Linz. Anders ausgedrückt: Während wienweit 50 Prozent eine nichtdeutsche Umgangssprache haben, sind es in Inner-Favoriten gefühlte 100. Das Publikum in unserem Bau war immer schon gut "gemišt": Der Burgschauspieler Wolfgang Gasser wohnte in der Nebenstiege rechts, der Philharmoniker Fritz Kerry, vormals Kohn, in der Stiege links. Dazwischen viel Radosavljević und Öztürk. Kurzfristig zog ein zu den Mitmenschen anderer Ethnien wenig freundlicher Politiker, selber geboren noch als Peter Hojač, als Peter Westenthaler in der Wohnung über uns ein. Dort lebt heute die freundliche türkische Familie Saglam.

Die Erdoğan-Addicts ...

Auch mein Schneider ist Türke. Ein Besuch bei ihm läuft seit Jahren so ab: Ich mache, wenn ich das Geschäft betrete, in dem er im weißen Mantel "ordiniert", Daumen-rauf-Daumen-runter und frage dazu: "Erdoğan?" Seine Antwort ist stets die gleiche: ein breites Lächeln und Daumen rauf. Nur einmal senkte er verschämt den Blick und tat zuerst, als hätte er meine Geste nicht gesehen. Als der Kunde vor mir das Geschäft verließ, raunte er mir zu: "Kurdischmann!"

Was emotional und, wie man seit den Anti-Kurden-Ausschreitungen rund um das Ernst-Kirchweger-Haus – die ehemalige Komensky-Schule für Kinder tschechischer Ziegelarbeiter – weiß, auch emotionell zwischen nationalistischen Kurden und Erdoğan-Addicts abgeht, und zwar weltweit überall, wo diese aufeinandertreffen, können Österreicher zum Glück nicht (mehr) nachvollziehen. Einmal hat es gekracht, viel testosterongetränktes Grölen und Brusttrommeln zwischen Reumann- und Keplerplatz, ein bisschen Geschubse, zwölf Festnahmen. Nach ein paar Stunden war der Spuk wieder vorbei und kam nicht wieder. Aber in der ZiB 1 zeigten sie zwei Wochen lang immer denselben Videoausschnitt von den "Straßenschlachten in Favoriten".

... und die Kickl-Strache-Hofer-Sympathisanten

Dass dessen Bezirksvorsteher Marcus Franz dazu demonstrativ gar nichts sagte, hat wohl einen guten Grund: Die Angehörigen der beteiligten Gruppen gehen nicht zur Wahl, vor allem, weil sie gar nicht dürfen: 37 Prozent der Favoritner haben keine österreichische Staatsbürgerschaft. Zur Wahl gehen dafür Favoritens knapp 40 Prozent, nennen wir sie Kickl-Strache-Hofer-Sympathisanten, und zwar in dieser Reihenfolge. Die sitzen dann etwa in Wolfi Geisslers "Werkelmann" im Böhmischen Prater – einer der originalsten Heurigen der ganzen Stadt! – und erörtern zu Stelze und Spritzwein den Untergang des Abendlands im Allgemeinen und den ihres Bezirks im Besonderen: "Die" hätten aus der Gudrunstraße die Güdrünstraße gemacht, aus jedem zweiten Friseur einen Kuaför, und statt der "Eitrigen mit Frosch" gebe es nur noch "Kebab mit alles".

Meine Freundin Beate, ein Favoritner Urgestein von 79 Jahren, sagt, sie würde heute wegziehen, wäre sie noch jung genug dafür. Ich schüttle den Kopf: Wer wie ich schon in der Währinger Cottage, in Glanzing oder Hietzing gewohnt hat, weiß Favoriten zu schätzen: Es quirlt, es sprudelt, es lebt. Ein Nachbar, der grillt, wenn ich schlafen will, ist für mich keine Kampfansage.

"Guter" Bezirk

Ich erinnere mich an das Kult-Plakat aus den frühen 1970ern: "I haaß Kolaric, du haaßt Kolaric. Warum sogn s’ zu dir Tschusch?" Eine Image-Aktion der damaligen Regierung Kreisky für die Akzeptanz von Migranten. Heute versteht sich der Innenminister als "Flex gegen Multikulti", und eine sich "Integrationsministerin" nennende Dame verkündet, "all dem entgegentreten" zu wollen, "was wir in unserer Gesellschaft nicht haben wollen", unter anderem die "Integrationsverweigerung schon in den Schulen". Aha?

Meine Tochter hat ihre Volksschulzeit in der katholischen Privatschule in Döbling verbracht (weil wir damals dort gewohnt haben), mein Sohn die seine in der öffentlichen am Keplerplatz (weil wir jetzt da wohnen). Die Qualität, man glaube mir, ist in beiden Schulen die gleiche: top! Kein Unterschied? Doch: In der Klasse meiner Tochter saß der später wegen Mordes an der siebenjährigen Hadishat zu 13 Jahren Haft verurteilte Schüler Peter K. Der hatte noch in den ersten Schuljahren einen ganz anderen Namen gehabt, nämlich einen tschetschenischen. Sein zugewanderter Vater bezahlte für die "gute" Schule im "guten" Bezirk viel Geld, später für den österreichischen Namen noch eine Stange mehr. Ich weiß nicht, ob der Bub auch in Favoriten zum Mörder geworden wäre. Aber ich glaube, dass es heilsam sein kann, auf offener Straße hin und wieder in seiner Muttersprache zu schreien und Volkslieder der alten Heimat zu singen. Zuweilen sehe ich es und lächle. (Niki Glattauer, 31.7.2020)