Der "Rigoletto"-Clownkopf wurde im Herbst 2019 winterfest eingemottet – und bleibt dies auch vorläufig.

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Als am frühen Abend die Limousine des Landeshauptmanns durch den frischen Kuhfladen rollt, ist Markus Wallner noch entspannt. Der 53-jährige Vorarlberger Regierungschef befindet sich mit einer kleinen Delegation auf Durchreise im Bregenzerwald hinter Hittisau. Eine Kaltfront bestimmt das Wetter. Neun Grad Celsius, leichter Nebel liegt auf der Straße, das Auto fährt auf Sicht, und im Fond ahnt der Politiker nichts von den Problemen, die in den nächsten Tagen auf ihn zukommen werden. Das allerkleinste werden dabei die Bregenzer Festspiele sein.

Was 1946 auf zwei Lastkähnen begann, entwickelte sich in den letzten Jahren zu einer Erfolgsgeschichte, welche eng mit den rund sieben Millionen Euro Förderungen von Bund, Land und Stadt verknüpft ist. Spricht man mit dem Landeshauptmann im kleinen Kreis, trifft man auf einen nahbaren Politiker mit offenem Blick, der gerne ins Erzählen kommt. So wie es entgegen der landläufigen Meinung keine landestypischen Eigenschaften des Vorarlbergers gibt ("fleißig", "sparsam" usw.), so ist auch Wallner schwer einzuordnen.

Als Student in Innsbruck hat er als Barpianist einmal wöchentlich die kreative Schule des Künstlerseins erlebt. Heute wirkt er in der allgemeinen Wahrnehmung oftmals sperrig mit dem Pragmatismus eines Verwalters, der das Land wie eine Firma führt. Angesprochen auf die Festspiele, redet er von einem "Wirtschaftsfaktor" und Studien, die belegen sollen, dass die öffentlichen Mittel im Zuge der Umwegrentabilität in mehrfacher Höhe wieder ins Land zurückfließen. Sicher ist, dass der von den Festspielen aufgebrachte Eigenanteil im Vergleich zu anderen internationalen Festivals sehr hoch ist.

Damit spielen die Bregenzer überzeugend die Rolle des Musterschülers auf dem Gebiet der modernen Unterhaltungskunst. Bis dahin war es jedoch ein weiter Weg, dessen Ursprung 1946 auf wackligem Boden begann: einer schwimmenden Bühne inmitten des Bregenzer Gondelhafens. Abseits davon tummelten sich Flüchtlinge auf den Straßen, die Grenzen waren geschlossen, es mangelte an Arbeitsplätzen und in den Läden an Grundnahrungsmitteln. Hunger hatte die Bevölkerung nach sechs Jahren Krieg aber auch auf Kunst. Und so sah man in der Krise auch die Chance, etwas ganz Neues zu entwickeln. Dank einer Sonderregelung der französischen Besatzungsmächte an den Grenzstationen zum Kanton St. Gallen kamen zur ersten Festwoche mit Werken von Mozart, Max Mell, französischer Lyrik und einem Sport-Programm über 85 % der Gäste aus der Schweiz.

Für Vorarlberg war das die Geburtstagsstunde des Kulturtourismus und für Bregenz der Beginn der profitablen Festspielzeit, die seitdem jeden Sommer ununterbrochen der Stadt einen Stempel aufdrückte. Dreiundsiebzig Mal in Folge fanden die Festspiele in Bregenz statt, sie wurden erwachsen und ihr Selbstbewusstsein groß. Nur gelegentlich war es ernst.

Als 1949 die Bregenzer Stadtvertretung keine Zukunft für die Festspiele mehr sah und gegen eine Fortsetzung votierte. Oder in den 70er-Jahren, als eine Gruppe von Künstlern um Reinhold Luger mit den Randspielen eine Konkurrenz-Veranstaltung etablierte, als Protest gegen ein konventionelles Operettenprogramm der Festspiele. Selbst die astronomische Gagenforderung von kolportierten neunhunderttausend Schilling von Klaus Maria Brandauer oder der bis dato flüchtige Dieb in den eigenen Reihen, der als leitender Angestellter Teile des Betriebsvermögens in Höhe von einer Million Euro auf sein privates Konto transferierte, blieben Anekdoten.

Und dann kam das Virus.

In der über siebzigjährigen Geschichte sehen sich die Verantwortlichen nun aufgrund der gesetzlichen Vorgaben aus Wien für Bühne und Publikum damit konfrontiert, erstmals über einen Ausfall nachzudenken. Der Spagat zwischen Kommerz und Kultur gelingt den Festspielen seit Jahren optimal. Aber können sie auch Krise? Als die Bayreuther Festspiele schon im März das Wagner-Festival absagen, üben sich die Beteiligten am Bodensee in Zweckoptimismus und dem Versuch einer Beschwichtigung. "Alles im Plan. Wir finden statt!"

Intern werden regelmäßig runde Tische zu verschiedenen Aspekten der Corona-Krise abgehalten, einberufen von der damaligen Staatssekretärin für Kunst und Kultur, Ulrike Lunacek. Ende April wird per Videokonferenz zum Thema Proben gesprochen und über die Gagen. Es geht ums Geld. Von Kulturstaatssekretärin Lunacek erwartet sich Barbara Schöbi-Fink darüber hinaus gelockerte Vorgaben aus Wien, um Aufführungen auf der weltgrößten Festspielbühne am See wieder möglich zu machen.

Die Kulturlandesrätin und stellvertretende Regierungschefin Vorarlbergs empfängt Besuch im dritten Stockwerk des Regierungssitzes in Bregenz und denkt laut über die Frage nach, ob und wie die Bregenzer Festspiele unter Berücksichtigung der Abstandsparameter und Hygienemaßnahmen durchführbar wären. Längst ahnt sie die Antwort, die sie höflich verschweigt. Es geht schon lange nicht mehr um die Frage, ob die Festspiele stattfinden, sondern nur noch darum, wer die Verantwortung für den Ausfall des Kulturmotors übernimmt.

Keine Außentermine

Die Stadt, der Bund oder sie selbst? Schon über Wochen hat die Politikerin keine Außentermine mehr wahrgenommen. Draußen fühlen sich viele Kunst- und Kulturschaffende Vorarlbergs im Verordnungsdschungel im Stich gelassen und fordern schneller Fördermittel. Hier im Maschinenraum der Politik die bürokratischen Zwänge der Institution, dort die Freiheit der Kunst, deren Protagonisten darum kämpfen, dass Politiker Kunstförderung nicht als Sozialförderung missverstehen.

Die Politikerin Schöbi-Fink illustriert ihr momentanes Lebensgefühl als im Büro Eingesperrte unaufdringlich mit einem Zitat aus dem Panther von Rainer Maria Rilke. Von ihrem Schreibtisch öffnet sich der Blick durch das Fenster auf den größten See Österreichs und Deutschlands. Über dem Bodensee hängen die Wolken tief und dunkel. Ein Naturpanorama, das paradoxerweise künstlich aussieht wie eine Fototapete.

Zwei Tage später. Dass am 14. Mai der Gedenktag der heiligen Corona begangen wird, mag Zufall sein. Nach katholischer Betrachtung gilt die frühchristliche Märtyrerin als Patronin des Geldes. Den Bregenzer Festspielen scheint sie an diesem Tag kein Glück zu bringen. Während deren handelnde Personen dort im Allgemeinen stets um Souveränität und Transparenz bemüht sind, scheint die Stimmung des Pressesprechers nun von Argwohn geprägt. Schmallippig wird versucht, eine Absage der Festspiele zu dementieren.

Stattdessen Zweckoptimismus und Hoffnung auf die morgige Pressekonferenz in Wien mit der Kulturstaatssekretärin, konkreten Vorgaben und endlich Planungssicherheit. Trunken vom Erfolg der vergangenen Jahre mit immer steigenden Besucherzahlen, wirkt das Kulturunternehmen in dieser Krise plötzlich unbeholfen. Über hundertsechzigtausend Karten sind bereits verkauft, als der Lockdown das Festspielhaus lahmlegt und infolgedessen ein Großteil der achtzig Mitarbeiter in Kurzarbeit und ins Homeoffice geschickt wird.

Am Tag danach gibt es doch eine Überraschung. Es ist der 15. Mai, als die Kulturschaffenden sehnsüchtig auf die Bekanntgabe von Lockerungen warten. Ulrike Lunacek tritt aber unter dem Druck der wachsenden Kritik zurück. Stattdessen stellen Vizekanzler Werner Kogler und Gesundheitsminister Rudolf Anschober den Stufenplan für die Öffnungen im Kulturbereich vor.

Angesprochen auf die Salzburger und Bregenzer Festspiele, sagt der Gesundheitsminister, dass jeder Veranstalter abwägen müsse, ob die Ausrichtung der Veranstaltung mit den neuen Rahmenbedingungen vereinbar sei. Jetzt liegt der schwarze Peter wieder in Bregenz, und während in Salzburg der Landeshauptmann positiv auf die neuen Nachrichten reagiert und "modifizierte Festspiele" in Aussicht stellt, berufen die Festspiele in Bregenz zu Mittag kurzfristig eine Pressekonferenz ein.

15. Mai 2020: Festspielpräsident Hans-Peter Melzer sagt die Festspiele ab.
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Trauriger Moment

Die Entscheidung ist gefallen. Nun werden sämtliche Partner und Subventionsgeber per Telefon informiert, dass die Festspiele 2020 unter diesen Bedingungen keine Perspektive hätten. Wien scheint gerade anderweitig beschäftigt zu sein, aber Festspielpräsident Hans-Peter Metzler erreicht auf Landesebene Schöbi-Fink und den Bürgermeister der Stadt Bregenz, Markus Linhart.

Das überdimensionale Clownsgesicht im Bühnenbild von Rigoletto hat die Augen geschlossen, als sich kurz darauf der kleine Saal im Festspielhaus mit Journalisten hinter Masken füllt und Hans-Peter Metzler die Absage verkündigt. Er sprach von einem "für uns traurigen Moment" und die Intendantin davon, dass die Festspiele ohne die Aufführung auf dem See nicht denkbar seien.

Damit werden zum ersten Mal seit ihrer Gründung vor vierundsiebzig Jahren die Festspiele nicht stattfinden. Ihr unverwechselbares Kennzeichen sind die opulenten Bühnenbilder vor dem Hintergrund des Bodensees unter freiem Himmel und die Tribüne, die mit rund siebentausend Zuschauern bei fast dreißig ausverkauften Aufführungen der Goldesel für die Festspiel GmbH ist. Zwar ist dieSeebühne nicht alles, aber alles ist nichts ohne sie. Durch den Überschuss der publikumswirksamen Oper auf dem See werden Programme im Festspielhaus und zeitgenössische Kunst auf der Werkstattbühne finanziell leichter realisiert.

Großveranstaltungen dürfen aktuell aber nur mit bis zu 1250 Personen abgehalten werden. Das sei wirtschaftlich nicht machbar, heißt es vom kaufmännischen Leiter Michael Diem. Seit über 20 Jahren ist er bei den Festspielen beschäftigt, seit langem für die Finanzen und das Rechnungswesen als Geschäftsführer verantwortlich. Er ist das gute Gewissen der Festspiele, alles andere als nur ein kühler Rechner, wie ihn eine Zeitung einmal beschrieb, bescheiden und unprätentiös. Er wirkt wie der Typ Mensch, der auch an einer verlassenen Ampel nicht bei Rot über die Straße läuft.

Als im Frühling in Italien die Todesraten steigen, informierten ihn Freunde direkt aus dem einstigen Corona-Hotspot Bergamo. Schnell wurde ihm dadurch die Gefahr bewusst. Doch erst in dem Augenblick, als sein eigener Vater ihm erklärte, dass er dieses Jahr wegen des Risikos einer möglichen Ansteckung nicht zu den Festspielen komme, versteht er, dass es weniger auf Gesetzgebung und wirtschaftlichen Erfolg ankommt als auf eine individuelle Risikoabwägung, die er persönlich schon frühzeitig trifft.

Als Geschäftsführer trägt er die Verantwortung für die mehr als 1600 Mitwirkenden pro Saison, aber auch für die Sicherheit des Publikums. Für die einen bedeutet das schlaflose Nächte, für Michael Diem hingegen ist es der Reiz der Herausforderung, die Vorbereitungen für die Durchführung des normalen Festspielprogramms unter erschwerten Bedingungen voranzutreiben. Andererseits traf er parallel dazu Maßnahmen, um bei einer Absage der Festspiele Umbuchungen und Kartenrückgaben problemlos abzuwickeln. Auf alles ist er vorbereitet, denkt er.

Sein Mentor war jahrelang Franz Salzmann. 1982 kam dieser nach einem kritischen Rechnungshofbericht und Vorwürfen der Misswirtschaft neu als kaufmännischer Direktor zu den Festspielen, als diese Ende der 70er-Jahre an einer inhaltlichen und finanziellen Flaute litten. Gemeinsam mit Intendant Alfred Wopmann, dem technischen Direktor Gert Alfons und Festspielpräsident Günter Rhomberg verhalf dieses dynamische Erfolgsquartett mit mutigen Entscheidungen den Festspielen zu einem neuen Qualitätsanspruch. Das Bühnenbild der Zauberflöten-Inszenierung 1985 verschlang das sechsfache Budget früherer Produktionen. Doch das Risiko wurde belohnt, das Stück ein großer Erfolg und diese Fassung des Mozart Klassikers der Übergang in Bregenz zu anspruchsvollerer Opernkunst am Bodensee.

Diese Risikobereitschaft ist für den Kulturtourismus-Experten Edgar Eller aus Feldkirch eine Grundvoraussetzung für Innovation, die bei ihm nicht zum Schlagwort verkommt. Er denkt Kultur vom Gelingen her, will leises Staunen erwecken oder streitbar sein. Die Festspiele orientieren sich dagegen primär an Besucherzahlen und wollen den Markt.

Der Bregenzer Bürgermeister Markus Linhart sitzt, hinter einer dezenten Rauchwolke, gegenüber dem Kunsthaus im Café Cuenstler. Sein Zigarillo verbreitet süßwürzigen Duft und glimmt länger als eine Viertelstunde. Er denkt schnell, hört zu, agiert aus dem Bauch heraus und verkörpert den Politiker zum Anfassen. Passanten grüßen ihn, und je nach Herkunft kann es passieren, dass er, als weltläufig sozialisierter Diplomatensohn, einen Smalltalk auf Arabisch hält. Er ist der am längsten regierende Bürgermeister von Bregenz, mit einem Faible für Espresso und Fahrradfahren ohne Motor.

Linhart erkennt das Problem, dass die Absage der Festspiele in der Stadt ein kulturinfrastrukturelles Vakuum erzeugen könnte, und entschließt sich für eine Doppelstrategie. Mit durchdachter Öffentlichkeitsarbeit gibt er eine Kampagne zum Kultursommer 2020 in Auftrag, im Wissen, dass Kultur in der Stadt mehr als Kultur von der Stadt ist. Künstlerinnen und Künstler prägen eine Stadt entscheidend. "Die Vorarlberger Landeshauptstadt ist eine Festspielstadt – sie ist vor allem eine Kulturstadt", betont er bei einem runden Tisch vor den Vertretern der Landesregierung, Kulturinstitutionen und Tourismus.

"Festtage" im August

Parallel steht er als Kuratoriumsvorsitzender im ständigen Austausch mit dem Führungsgremium der Festspiele, die sich kurzzeitig mit der kompletten Absage arrangiert hatten. Sein Führungsstil ist nicht darauf angelegt zu überreden. Er schätzt den gegenseitigen Dialog, und es scheint, sein Einwirken führt zu mehr als nur dem angekündigten, kleinen künstlerischen "Lebenszeichen". Nach langem Zögern präsentieren die Bregenzer Festspiele letztlich doch ein Alternativprogramm.

Die "Festtage" im August mit einem sogenannten Alternativprogramm sind eine achttägige Veranstaltungsreihe im Festspielhaus und Kunsthaus Bregenz. Der Besuch von Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Meyer ist ein Zeichen der Wertschätzung: "Die Festspiele beweisen mit ihrer hohen künstlerischen Qualität jedes Jahr aufs Neue, dass es gut ist, dass es sie gibt." Falls das Motiv ihrer Dienstreise jedoch Neugierde auf Unkonventionelles ist, dann schaut sie sich den Liederabend des Tiroler Kammerensembles Franui an und die Opern-Uraufführung der Opera buffa. Impresario Dotcom wird inszeniert von der spannenden Regisseurin Elisabeth Stöppler, die die Intendantin Sobotka nach der Absage überreden konnte, das Stück doch zu spielen.

Der ehemalige Leiter der Kulturabteilung des ORF Vorarlberg, Walter Fink, ist einer derjenigen, die das Programm abgesehen von diesen Ausnahmen als wenig programmatisch empfinden. Wenn er das Wort "bieder" verwendet, spricht Enttäuschung aus ihm, weil er in Kenntnis des Potenzials der künstlerischen Führung mit Innovativem gerechnet hätte.

Jan-Philipp Moeller, Investigativjournalist und seit über 20 Jahren Autor für ARD, ZDF und Printmedien ("Spiegel", "Falter")
Foto: Privat

Wie auf Nadeln

Diese Woche begannen die Proben, und zeitgleich wird im Bregenzer Hafen eine schwimmende Plattform befestigt, eine Reminiszenz an die Anfänge der Festspiele auf einem Lastenkahn. Auf einer LED-Wand sind vom Ufer aus Opernaufführungen der Festspiele aus den letzten zehn Jahre zu sehen. Ein bisschen Seebühne aus der Retorte. Echt dagegen ist die Gefahr eines erneuten Anstiegs der Infektionszahlen. Zweiunddreißig aktive Infektionen in Vorarlberg. Drei Fälle im Bezirk Bregenz veranlassen den Bürgermeister, an die Eigenverantwortung zu appellieren. "Aktuell ist die Situation in Bregenz ruhig. Aber wir sitzen auf Nadeln."

Wenn es nach Robert Musil stimmt, dass sich Städte wie Menschen am Gang erkennen lassen, dann scheint Bregenz größer zu sein, als es ist, und beim Gehen zu zögern. Es braucht keinen Neuanfang, sondern nur eine zukunftsweisende Richtung und den gemeinsamen Willen loszulaufen. (Jan-Philipp Moeller, 1.8.2020)