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Justin Trudeau verteidigt sich.

Foto: Reuters / Blair Gable

Ottawa – Gerade noch schien er auf dem Höhepunkt seiner Beliebtheit, nun muss sich Kanadas Premier Justin Trudeau sehr ernsthaft mit seinem Rücktritt beschäftigen. Diesen fordert zumindest die Opposition seitdem klar ist, dass die Regierung des Premiers in der Corona-Krise einen Großauftrag an ein Unternehmen vergeben hat, zu dem Trudeau freundschaftliche Beziehungen pflegt – und das in den vergangenen Jahren hunderttausende kanadische Dollar an seine Familienmitglieder überwiesen hatte. In der Nacht auf Freitag musste sich der Regierungschef deshalb vor einem Parlamentskomitee verteidigen. Er gab dort an, keinen Einfluss auf die Auswahl der Organisation genommen zu haben. Dafür, dass bei der Vergabe ein schlechter Eindruck entstanden sei, hatte er sich bereits vor zwei Wochen entschuldigt.

Trudeaus Auftritt vor dem Komitee – er war wegen der Corona-Krise auf großen Bildschirmen zugeschaltet – war der erste eines Regierungschefs seit 2006. Das gilt auch als Beleg dafür, wie ernst die Sache rund um die Auftragsvergabe ist. Konkret geht es dabei um ein Programm, mit dem letztlich rund 900 Millionen kanadische Dollar (563 Millionen Euro) in der Corona-Krise verteilt werden sollten. Sie gehen an Studenten, die sich in diesem Sommer für Hilfsprojekte engagieren, statt in Sommerjobs zu arbeiten. Dabei können Zuschüsse von bis zu 5.000 Dollar (3.130 Euro) pro Person vergeben werden. Die Regierung hatte den Auftrag dafür ohne Ausschreibung an die Organisation WE Charity vergeben. Diese sei die Einzige, die ein Programm in diesem Umfang schnell stemmen könne.

Kein Einfluss auf die Vergabe

Das Problem: Trudeau unterhält zu der Firma schon lange Beziehungen. Er und seine Frau sind mehrfach bei Veranstaltungen von WE Charity aufgetreten, vor allem aber haben Familienmitglieder für Reden bei der Organisation gutes Geld verdient. Insgesamt sollen in den vergangenen Jahren Aufwandsentschädigungen in der Höhe von 280.000 Dollar unter anderem an Trudeaus Mutter und seinen Bruder geflossen sein. Der Premier sagt nun, er habe von den Zahlungen gewusst – aber nicht von deren Höhe. Dass er sich nicht formell aus dem Entscheidungsprozess zurückgezogen habe, sei ein Fehler gewesen. Aber: Auf die Vergabe selbst habe er niemals Einfluss genommen, wegen seiner Beziehungen zu WE Charity habe er sogar eine besonders strenge Prüfung veranlasst. Das bestätigten bei der Anhörung am Donnerstagabend auch hohe Beamte.

Während sich die Vorwürfe gegen Trudeau also bisher eher auf den Anschein ungebührlichen Verhaltens beschränken, wird die Sache durch eine weitere Wendung verkompliziert. Nicht nur Trudeau, sondern auch sein Finanzminister Bill Morneau hat nämlich eine lange Beziehung zu WE Charity. Morneau hatte in der Vergangenheit unter anderem Reisen mit der Organisation nach Kenia und Nicaragua unternommen – und diese zunächst nicht selbst bezahlt. Zwei seiner Töchter arbeiten dort zeitweise. Auch sein Verhalten wird untersucht.

Massiver Vertrauensverlust

Mit seinem Auftritt vor dem Parlament hatte Trudeau versucht, sein Image als Premier zu festigen, der in der Krise schnell handeln musste, um notleidenden Kanadierinnen und Kanadiern zu helfen – und dabei auf bekannte Lösungen setzte. Darüber, ob ihm das gelungen ist, gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Geschadet hat ihm die Affäre aber schon jetzt massiv. Waren er und seine Liberale Partei wegen ihrer Performance in der Corona-Krise zuletzt auf über 40 Prozent Zustimmung gestiegen, hat er seit Bekanntwerden der Affäre fast zehn Prozentpunkte an Zuspruch wieder verloren.

Vor allem aber lässt sie sein Image weiter bröckeln. Für Trudeau ist es die dritte Untersuchung wegen des Verdachts auf Ethikvergehen in gut drei Jahren. Ende 2017 hatten er und seine Frau auf Einladung des Aga Khan auf den Bahamas geurlaubt und dabei unter anderem Helikopterflüge unternommen, für die sie nicht bezahlt hatten. Trudeau verteidigte sich damals damit, dass er ein alter Freund des Aga Khan sei. 2019 hatte ihn seine zurückgetretene Justizministerin Jody Wilson-Raybould beschuldigt, eine Strafverfolgung des Großkonzerns SNC Lavalin verschleppt zu haben, wofür Trudeau geltend machte, er habe damit kanadische Jobs retten wollen. Schließlich waren im Wahlkampf 2019 mehrere Fotos und ein Video bekanntgeworden, auf denen Trudeau mit Blackface-Verkleidung zu sehen ist. Dies hat er als Fehler bezeichnet und sich dafür entschuldigt.

Trudeaus Liberale hatten bei der Wahl im Oktober 2019 schließlich zwar weniger Stimmen erhalten als die oppositionellen Konservativen. Weil sie mehr Wahlkreise gewannen, konnten sie sich aber an der Regierung halten. Die nächsten regulären Wahlen sind im Jahr 2023 vorgesehen. (Manuel Escher, 31.7.2020)