Schwebeteilchen der Erinnerung: Robert Seethaler.

Foto: Imago/Leemage

In eine Decke gehüllt sitzt Gustav Mahler auf dem Sonnendeck der Amerika. Im dunstigen Morgenlicht ist wenig zu sehen, das Meer ist grau, von Norden bläst kräftiger Wind. Aber "der Mann vom Sonnendeck" mag den Wind, und das Meer ist sein letzter Begleiter. In Robert Seethalers biografischem Roman, der auf der Heimreise von New York im Februar 1911 spielt, erleben wir einen räsonierenden Gustav Mahler, der im Rauschen von Wind und Wasser sein Leben verlöschen spürt – "Ich hätte so gerne noch gelebt" –, der aufs Meer hinausblickt und wichtige Stationen noch einmal Revue passieren lässt.

So ähnlich hat es Ken Russell 1974 in seinem Film Mahler gemacht: Während der Zugfahrt von Paris nach Wien wird in Rückblenden das Leben des schwierigen Komponisten aufgerollt. Bei Seethaler, der uns keinen exzessiven, von Todesangst gepeinigten, sondern einen in sich ruhenden Künstler zeigt, bildet die Fahrt über den Atlantik den Rahmen: Der Todkranke allein an Deck des Hochseedampfers, während Alma unten frühstückt.

"Haben sie dir gesagt, dass ich sterbe?", fragt er den Schiffsjungen, der ihm Tee bringt und öfters nach ihm sieht. Mahler weiß um seine Situation: "Es ging heimwärts, das war alles." Und auf dieser Heimfahrt läuft das eigene Leben als der berühmte letzte Film vor ihm ab: "Vor seinem inneren Auge sah er jetzt …"

Es ist ein simples, natürlich überzeugendes Erzählmuster, und alles, was da vor dem inneren Auge aufleuchtet, dreht sich selbstverständlich um die Musik – und selbstverständlich um Alma, die auch in der Erinnerung – was sonst – als beherrschende Femme fatale auftritt.

Einmal hört man sie sagen: "Mein Gott, bist du dramatisch." Ein andermal schleudert sie dem Genie ins Gesicht: "Aber es gibt kein Höchstes. Darüber ist immer noch irgendetwas." Das klingt nach Demütigung und passt zu der Szene 50 Seiten davor, als sie ihren Mann zwingt, in Paris keinem Geringeren als Rodin für eine Büste Modell zu sitzen. Gustav Mahler benimmt sich dabei wie ein kleines Kind, für ihn ist Rodin ein grober Bauer, "ein Stümper". Rodin wiederum hat es nicht notwendig, sich herabzulassen. "Tais-toi, putain!", zischt er, als es ihm zu viel wird, was so viel heißt wie: "Halt die Klappe, verdammt!"

Die üblichen Versatzstücke

Aber Mahler kann kein Französisch und Alma offenbar auch nicht. "Bitte, Gustav. Reiß dich zusammen!", herrscht sie ihn an, und Rodin fragt seine Assistentin, was diese Idioten ("ces idiots") da ständig reden … Eine herrlich komische Szene, man hätte sich solche mehr im Buch gewünscht.

Natürlich ist dieser Gustav Mahler eine Kunstfigur, aber an den biografischen Details, die puzzleartig zum Einsatz kommen, ist nichts erfunden. Es sind die üblichen Versatzstücke aus Mahlers Biografie, ein wenig flüchtig zusammengefügt: der herrische Dirigent, der "Jud", den das Wiener Publikum nicht liebt, der ewige Makel der Herkunft, die konfliktreiche Ehe mit Alma, der "schönsten Frau Wiens", das "Komponierhäusl" am Wörthersee, der Tod der Tochter Anna, die Demission als Hofoperndirektor, das "amerikanische Engagement", die Konsultation von Dr. Freud usw.

Das alles ist längst so bekannt, dass auch dieser schmale Roman nur ein Buch voller Erwartbarkeiten sein kann. So handwerklich gut der auch gemacht ist und so erzählerisch gelungen die Form auf den Leser wirkt – im Rückblick-Modus ist alles ein wenig eintönig, vorhersehbar, und das liegt wohl daran, dass Seethaler es verabsäumt hat, um Mahler herum eine Geschichte zu erzählen, wie er es in seinem 2012 erschienenen Roman Der Trafikant bei Sigmund Freud getan hat.

Dort erlebt ein 17-jähriger Lehrling in einer Trafik die letzten Monate vor dem März 1938 und begegnet dabei dem über achtzigjährigen Freud, der ihm zur wichtigen Bezugsperson wird, das schafft eine zusätzliche fiktionale Ebene, eine "Erzählung". Im Roman wird der Fokus einzig auf Mahler, auf sein Künstlerleben und seine Konflikte, eben auf allzu Bekanntes gelegt.

Robert Seethaler, "Der letzte Satz".€ 19,60 / 126 Seiten. Hanser Berlin, Berlin 2020
Foto: Verlag

Ein paar flüchtige Worte

Dabei hätte Seethaler es in der Hand gehabt, auch um Mahler herum eine solche Geschichte zu erzählen. Immerhin liefern die letzten sechs Seiten einen tauglichen Ansatz dazu, als nämlich der Schiffsjunge, der während der Überfahrt immer wieder nach Mahler gesehen hat, Monate später aus einer alten Ausgabe einer amerikanischen Zeitung von dessen Tod und damit erst erfährt, wer "der Mann vom Sonnendeck" war, mit dem er ein paar Worte gewechselt hat.

So blass und unscharf gezeichnet der Schiffsjunge im Buch ist, die letzten sechs Seiten gehören ihm allein, das Finale ist seine Geschichte – und es hätte eine große Geschichte sein können, wäre sie denn auch wirklich erzählt worden.

Seethalers Roman leidet ein wenig darunter, dass der Kern dieser Rahmengeschichte keinen Plot hat, sondern aus lauter kleinen Erinnerungsteilen besteht, die keine richtige Geschichte aufkommen lassen. Man vermisst den doppelten Boden. Bis sich aus all den Details ein Gesamtbild von der Idee Mahler ergibt, ist vieles "Konfusion": "Die Schwebeteilchen seiner Erinnerung", heißt es, "wirbelten durcheinander …" Genau so ist es – am Ende bleibt es bei den vielen nacherzählten Details aus Mahlers Biografie. Aber reicht das aus für einen Roman? (Gerhard Zeillinger, 1.8.2020)