Von links: Asmik Grigorian (Chrysothemis) und Aušrinė Stundytė (Elektra) während der Fotoprobe zu "Elektra", die am 1. August in der Felsenreitschule Premiere feiert.
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Die litauische Sopranistin über die Vielschichtigkeit der Figur, die detaillierte Vorbereitungsarbeit mit Franz Welser-Möst und gewisse Anlaufschwierigkeiten nach der Corona-Auszeit.

STANDARD: Dieses Stück ist der reine Wahnsinn, eine Raserei in Tönen: drastisch, extrem, hysterisch, hochnervös. Spitze, scharfe Moderne wechselt, vermischt sich mit opulenter Spätromantik. Eigentlich eine permanente Überforderung. Wie empfinden Sie die Musik von "Elektra"? Welche Seiten mögen Sie besonders?

Stundytė: Ja, genauso habe auch ich diese Musik beim ersten Zuhören empfunden. Jetzt aber, je intensiver ich mich damit beschäftige, desto mehr höre ich nur die Schönheit – vor allem anderen. Jetzt bin ich schon so weit, dass ich keine Dissonanzen und Schrille mehr finden kann, nur Expressivität und … ja, unglaubliche Schönheit und Tiefe. Meine absoluten Lieblingsszenen sind die mit Klytämnestra und die mit Orest. Sie sind wahnsinnig stark im Wort und in der Musik, und sie zeigen die zwei komplett unterschiedlichen Seiten von Elektra: kalte Powerfrau und zerbrechliches Mädchen.

STANDARD: Kommen wir von der Musik der "Elektra" zur Titelpartie. Einst die schöne, angebetete Königstochter, vegetiert Elektra am Beginn des Stücks wie ein Tier im Hof des Königspalastes. Sie ist gänzlich Hass, ihr einziger Lebensgrund ist, den Mord an ihrem Vater zu rächen. Ein monoperspektivisches, negativ fixiertes Leben. Wie sehen Sie Elektra?

Stundytė: Die "Tunnelvision" ist schon ein sehr dominantes Element in Elektra. Was ich aber wahnsinnig faszinierend finde, sind die sehr unterschiedlichen Charakterseiten, die man entdeckt, wenn man Elektra von Szene zur Szene begleitet und sie bei der Interaktion mit anderen beobachtet. Sie ist, fanatisch liebend, ihres Vaters Tochter, kalt und überlegen mit ihrer Mutter Klytämnestra, zynisch, manipulativ, aber auch irgendwie ungeschickt liebend mit ihrer Schwester Chrysothemis, sanft und zerbrechlich mit ihrem Bruder Orest, falsch und doppelzüngig mit Aegisth, dem Mörder ihres Vaters Agamemnon. Sie hat ein sehr klares Ziel, aber ihr Wesen ist eigentlich wahnsinnig reich und komplex.

STANDARD: Ist es schwer, eine Figur von einer solchen abgrundtiefen Schwärze singend darzustellen, so viel Hass in sich zu aktivieren?

Stundytė: Ich aktiviere den Hass eigentlich so gut wie gar nicht. Das ist etwas so Selbstverständliches für Elektra, dass es gar nicht im Vordergrund ihrer täglichen Realität ist. Nicht mehr. Es ist wie die Luft, die man atmet – man merkt sie nur dann, wenn man keine mehr hat, wenn man erstickt. Und so geschieht es eigentlich auch mit Elektra. Als die Tat vollbracht ist, stirbt sie – ihre "Luft", der Hass – ist ausgegangen. Worauf ich mich konzentriere, ist etwas anderes. Elektra ist sehr fokussiert, sie sieht sich wie eine hohe Priesterin, die eine Mission zu erfüllen hat (so hat sie mir Maestro Welser-Möst beschrieben, und das ist tatsächlich die beste Beschreibung für ihre innere Einstellung). Diese tunnelartige Konzentration und Wachsamkeit – da liegt mein Fokus.

STANDARD: Sie haben die Salome schon oft gesungen – auch eine sehr extreme Partie und Frauenfigur in einem Einakter von Strauss. Singen Sie in Salzburg Ihre erste Elektra? Wo liegen die Schwierigkeiten dieser Partie – stimmtechnisch und emotional? Muss man sich die Kräfte ähnlich überlegt einteilen wie bei der Salome?

Stundytė: Noch viel mehr als bei Salome. Salome hat im Prinzip zwei große Szenen, die man sich jeweils klug einteilen muss. Dazwischen hat man aber genügend Zeit zur Vorbereitung auf die nächste. Bei Elektra muss man sich das ganz Stück einteilen, also schon im ersten Monolog an das Schlussduett denken. Und – ja, das ist meine erste Elektra. Es ist wohl die größte Herausforderung, die ich mir bis jetzt selbst zugemutet habe.

STANDARD: Sie haben die Partie schon vor den Proben in Salzburg seit einem Jahr zusammen mit Franz Welser-Möst erarbeitet. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie aus diesen Proben gewonnen haben?

Stundytė: Das war ein Arbeitsprozess, wie ich ihn eigentlich noch nie so erlebt habe. Jetzt wünsche ich mir, dass alle Partien so vorbereitet werden. In den Proben wurde mir erklärt, wie Richard Strauss Elektras wahre Motive und Subtexte in die Partitur hineinkomponiert hat. Wir haben dann sehr detailliert nach passenden Farben gesucht, die das am besten ausdrücken können – wahnsinnig spannend. Das war wie eine Detektivarbeit. Der Text allein ist sowieso schon phänomenal, aber wenn man noch Strauss' Hinweise berücksichtigt – dann weiß man, warum es ein Jahr zur Vorbereitung braucht. Das alles muss erst einmal sickern, um zu einer Selbstverständlichkeit zu werden – dafür gibt es in den Probenwochen keine Zeit mehr.

STANDARD: In Salzburg inszeniert Krzysztof Warlikowski "Elektra". Wie ist sein Zugang zu dem Werk? Zeigt er es in einem zeitlosen/abstrakten Ambiente? Wie sieht er die Figur der Elektra?

Stundytė: Visuell kann man es als modern, gegenwärtig bezeichnen. Innerlich geht es um zeitlose Themen, die Menschen seit jeher beschäftigen – es könnte also in jeder Zeit spielen. Das Menschliche ist auch das, was ihn an Elektra und der ganzen königlichen Familie interessiert. Er wollte Elektras Seele zeigen – ihre Zerbrechlichkeit, ihre Menschlichkeit. Aber nicht nur ihre. Auch Klytämnestra wird in einem anderen Licht dargestellt, man versteht plötzlich, warum sie ihren Mann ermordet hat und wie sehr sie darunter leidet.

STANDARD: Die letzten Monate waren aufgrund der Corona-Pandemie für alle außergewöhnlich. Wo haben Sie die Zeit verbracht? Hat Sie die Situation sehr belastet?

Stundytė: Die Corona-Lockdown hat mich eigentlich in Österreich erwischt. Wir waren mitten in den Proben von Prokofjews "Der feurige Engel" im Theater an der Wien. Ich wohne derzeit in Belgien – und ich habe es damals gerade noch geschafft, einen der letzten Flüge zu kriegen. Ich muss zugeben, dass die Auszeit mir, abgesehen von der finanziellen Unsicherheit, sehr gut getan hat. Ich hatte Zeit für meine zweite Leidenschaft, das Malen. Gesungen habe ich auch fast jeden Tag, aber es war ein anderes Singen – ohne Stress und "Es muss alles klappen"-Druck. Man ist dann in einem komplett anderen Lebensrhythmus, der – ich vermute – eigentlich der natürliche und gesunde ist. In den ersten Proben in Salzburg hatten wir alle das Gefühl, tonnenschwere Dampflokomotiven zu sein, die ewig brauchen, um wieder in Gang gesetzt zu werden.

STANDARD: Wie war die Stimmung bei den "Elektra"-Proben in Salzburg unter Ihren Kollegen, in der "roten Gruppe"? Finden Sie, dass das Sicherheitskonzept der Salzburger Festspiele gegen Corona gut durchdacht und wirkungsvoll ist?

Stundytė: Wir alle fühlen uns sehr privilegiert und glücklich, dass wir in diesen Zeiten singen dürfen. Alle Sicherheitsmaßnahmen sind extrem streng, ich fühle mich sehr sicher hier. Die einzige Gefahr ist eigentlich das Leben draußen – auf den Straßen und in den Geschäften gibt es leider nicht so viele Vorsichtsmaßnahmen. (Stefan Ender, 31.7.2020)