Dem politischen Islam Einhalt zu gebieten liege im gesamtgesellschaftlichen Interesse – auch in Europa, so der Religionswissenschafter Ednan Aslan im Gastkommentar. Lesen Sie dazu auch den Islamwissenschafter Marwan Abou Taam, der im Gastkommentar einen "echten Hausputz der Theologie" fordert.

Die Islamisierung von Mauern, wie der Hagia Sophia, ist ein Ausdruck des Scheiterns von Präsident Erdoğan.
Foto: AFP / Yasin Akgul

Für den bekannten Islamwissenschafter Oliver Roy zeigt die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee vor allem eines: dass der politische Islam am Ende ist. Nachdem Recep Tayyip Erdoğan habe erkennen müssen, dass seine Islamisierungspolitik immer weniger Rückhalt finde, er es nicht geschafft habe, "die Köpfe zu islamisieren", islamisiere er nun eben Mauern. Das täusche darüber hinweg, dass seine Politik insbesondere am Widerstand der jungen Generation gescheitert sei.

Gescheitert in dem Sinn, dass er die breiten Massen nicht mehr zu erreichen vermag, ist der politische Islam nicht nur in der Türkei, sondern auch in Ägypten, Jordanien, Tunesien und Algerien. In keinem dieser Länder ist es ihm gelungen, seine Versprechen – Bekämpfung der Korruption und Herstellung von sozialer Gerechtigkeit – einzulösen. Im Gegenteil, die Islamisten und ihre Institutionen sind selbst zu Brutstätten von Korruption geworden.

Verklärter Blick

Wenn der politische Islam nun versucht, die Menschen mit Symbolpolitik für sich einzunehmen, tut er dies unter grober Missachtung einer Grundüberzeugung des Islam, wonach der Schutz der Gotteshäuser aller Religionen eine universale menschliche Aufgabe ist. Indem er sich anschickt, die sichtbare und über jeden Zweifel erhabene Historie einer weltbekannten Kirche zu tilgen, vernichtet er die letzten Hoffnungen auf einen Dialog der Religionen. Ein bekannter türkischer Journalist sprach sogar von der Talibanisierung der Regierungspolitik, die die Türkei vom Rest der Welt isoliere und demokratische Werte mit Füßen trete.

Der Ernüchterung der jungen Generation in den Heimatländern des politischen Islam und der damit einhergehenden Hinwendung zu säkularen, demokratischen Werten steht der verklärte Blick junger Europäer auf die Herkunftsländer ihrer Eltern gegenüber. Sie haben keinen Grund, sich über die Ursachen der tristen Lebensbedingungen und der Folgen von Korruption den Kopf zu zerbrechen – in einer Weltgegend, die sie allein vom Strandurlaub, aus staatlich gelenkten Medien, Propagandafilmen inklusive, kennen. In dieser Situation sieht der politische Islam eine Chance, das, womit er in den islamischen Ländern gescheitert ist, doch noch zu verwirklichen. Nicht nur die AKP, auch die Muslimbruderschaft und andere islamistische Organisationen sind dabei, ihre Aktivitäten immer mehr nach Europa auszudehnen, um Menschen muslimischen Glaubens gegen europäische Werte zu mobilisieren. Leider nimmt das auch die Form der Instrumentalisierung hier etablierter islamischer Organisationen an.

Innerislamische Kritik

Nach der von der Regierung angekündigten Einrichtung der "Dokumentationsstelle Politischer Islam" wurde der Vorwurf laut, hier werde mit einem Begriff operiert, der unbrauchbar, weil nicht definiert sei. Absurderweise von jenen, die es als ihre ureigenste Aufgabe betrachten, die Botschaft des politischen Islam in Europa zu verbreiten. Es ist höchst unglaubwürdig, dass die Muslimbruderschaft oder Millî Görüş die Definition des politischen Islam nicht kennen wollen, schließlich ist er doch ihr Produkt, haben sie diesen Begriff doch erst geprägt. Für solche Organisationen ist ein Islam ohne ideologisch-politischen Anspruch kein Islam.

Wenig angebracht ist auch die mit demselben Argument vorgetragene Kritik der Islamischen Glaubensgemeinschaft (IGGÖ). Tatsächlich sollte diese Aufgabe die IGGÖ selbst übernehmen; es wäre an ihr, islamistische Tendenzen in den Moscheegemeinden sichtbar zu machen, um sich entschieden davon zu distanzieren. Aber wenn innerislamische Kritik und Auseinandersetzung nicht funktionieren – und leider konnte sich die IGGÖ bis jetzt nicht zu dergleichen durchringen –, braucht es eben Druck von außen. Und es wäre zu wünschen, dass die Glaubensgemeinschaft die Dokumentationsstelle in ihrer wissenschaftlichen Arbeit unterstützt.

Nicht bloß oberflächliche Analyse

Was diese Stelle und die ihr angehörenden Personen zu erforschen oder zu dokumentieren in der Lage sind, wird sich zeigen. Sie sollten sich jedenfalls nicht mit der Analyse von Facebook-Seiten oder Zeitungsberichten begnügen, sondern ihr Augenmerk insbesondere auf den Einfluss politisch-religiöser Ideologien auf die Gesellschaft legen.

Die muslimische Mehrheit kann von einem distanziert-kritischen Blick nur profitieren, wie bereits die Lehrerstudie von Mouhanad Khorchide, meine Kindergartenstudie und ähnliche Analysen, deren Ergebnisse für viele Gläubige durchaus schmerzhaft waren, bewiesen haben. So wurde erstere Studie von der IGGÖ zum Anlass genommen, die veralteten, weltfremden Lehrpläne und Schulbücher zu revidieren und die Lehrkräfteausbildung zu verbessern. Nach Erscheinen der Kindergartenstudie wiederum hat die IGGÖ erkannt, dass es sich bei vielen als islamische Kindergärten deklarierten Einrichtungen tatsächlich um Teile eines undurchsichtigen wirtschaftlichen und ideologischen Netzwerks handelte. In der Folge ging zwar die Zahl der Kindergärten zurück, jene, die blieben, bieten heute aber eine ungleich höhere Qualität.

Endlich Selbstkritik

Die IGGÖ und die muslimischen Gemeinden wären gut beraten, sich von der selbstauferlegten Rolle des ewigen Opfers zu befreien und endlich Selbstkritik zu üben. In den islamischen Ländern beginnt man langsam zu verstehen, dass die größte Gefahr für ihre Zukunft der politische Islam ist, der Elend und Gewalt ungeheuren Ausmaßes zu verantworten hat. Nun sollte sich auch in Europa die Einsicht durchsetzen, dass ihm Einhalt zu gebieten im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegt. Die Definition dessen, was der politische Islam ist, ist nicht schwierig, dazu muss man lediglich die einschlägige Literatur der Muslimbruderschaft oder der Millî Görüş zur Hand nehmen, die ihn sehr ausführlich als integralen Bestandteil der Religion thematisiert – und damit den Gläubigen eine ordentliche Prise schlechten Gewissens ob ihrer Untätigkeit verabreicht. (Ednan Aslan, 1.8.2020)