Als Bruno Kreisky nach der Wahl 1983 zurücktreten musste, hatte die SPÖ 47,8 Prozent. Kreisky, der vor rund dreißig Jahren gestorben ist und vor fast 50 Jahren erstmals Kanzler wurde, hatte die SPÖ zur absolut dominierenden politischen Kraft im Lande gemacht.

Kreiskys Rücktrittsgrund nach 13 Regierungsjahren und drei absoluten Mehrheiten (1971, 1975, 1979) war übrigens seine seit längerem sichtbare schwere Krankheit. Als junger Journalist rief ich einmal Kreiskys Büro an. Ich wurde weiterverbunden, der Kanzler nahm ab, und man hörte ein Rauschen im Hintergrund. Ungefragt gab der Kanzler die Erklärung: "Ich lieg da in der Dialyse, mir geht’s wunderbar, ich les’ die Zeitungen mach’ meine Telefonate." Ein Regierungschef, der – unhinterfragt – mehrmals die Woche in eine lebenserhaltende Behandlung muss: Das wäre heute unmöglich.

Das Bild zeigt Bruno Kreisky 1979 auf einer Pressekonferenz mit dem Präsidenten der Sozialistischen Internationale Willy Brandt, Ägyptens Staatspräsident Anwar al Sadat und dem israelischen Vizepräsidenten der Sozialistischen Internationale Shimon Peres im Zusammenhang mit Nahostfriedensgesprächen.
Foto: APA/Bruno-Kreisky-Archiv

Der frühere "Arbeiter-Zeitungs"- und ORF-Journalist Ulrich Brunner, ein Sozialdemokrat, hat ein Buch geschrieben ("Lernen S’ Geschichte, Herr Reporter! – Episoden einer Ära", Ecowin-Verlag), das solche Episoden, Anekdoten, aber auch kluge Analysen gut lesbar zusammenfügt.

Kreisky war ein kaum umfassend zu schilderndes Phänomen – ein Jude, der es in einem stark antisemitischen Land bis ganz nach oben und zu ungeheurer Beliebtheit brachte; ein Bildungsbürger mit teurem Geschmack bei Anzügen, Autos und Wohnsitzen, der mühelos einen Rapport mit den sogenannten "kleinen Leuten" herstellte; ein politischer Visionär, der das Land nachhaltig modernisierte, gleichzeitig ein ungenierter Populist; schließlich ein ungemein witziger und informierter Gesprächspartner, der aber auch ungeheuer verletzend und ungerecht sein konnte.

Politisches Kalkül

Zu den Episoden, die Brunner etwas genauer erzählt (in Umrissen waren sie bekannt), gehörte eine aus seiner Zeit im Gefängnis des christlich-autoritären Ständestaates. 1935 als illegaler Sozialist inhaftiert, freundete sich Kreisky mit seinem Zellengenossen, einem jungen illegalen Nazi, an. "Mein Freund Weninger" machte dann später Karriere und ermöglichte Kreisky nach dem "Anschluss" die rettende Ausreise. Von daher stammt wohl Kreiskys lebenslange Haltung: "Mir ist ein anständiger Nazi lieber als so ein falscher Christlich-Sozialer!"

Aber es war selbstverständlich ein enormes politisches Kalkül dabei. Kreisky und seine SPÖ hätten in einem strukturell konservativen Land niemals drei absolute Mehrheiten erringen können, wenn er den Hunderttausenden der "Kriegsgeneration", für die "nicht alles schlecht" gewesen war, überhaupt den autoritär Denkenden und natürlich den Ex- und Nicht-ganz-so-Ex-Nazis nicht "die Hand der Versöhnung" hingestreckt hätte. So stand es in seiner ersten Regierungserklärung 1970. Die absoluten Mehrheiten kamen einerseits durch die bürgerlichen Liberalen zustande, die mit Kreisky nach seinem genialen Spruch "ein Stück Weges mitgehen" wollten.

Aber Kreiskys Erfolge und die lange Dominanz der SPÖ beruhen auch darauf, dass er die Rechtsautoritären, Rechtsnationalen bis Nazioiden ansprach.

Was das für eine Strategie der heutigen SPÖ bedeuten könnte, wäre ausführlicher zu diskutieren. Die Zeiten sind andere, die rechten Stimmen, die auf dem Markt wären, holt sich Sebastian Kurz. SPÖ-Wähler, denen die Partei zu rechts wird, können zu den Grünen oder auch den Neos ausweichen. Aber Kreisky konnte seine Erfolge letztlich auch nur erreichen, weil er zweierlei hatte: ein Konzept (Modernisierung) und einen unbedingten Willen zur Durchsetzung. (Hans Rauscher, 31.7.2020)