Aus der Sicht von Franz Allerberger hat Österreich Covid-19 aktuell gut unter Kontrolle. Das könne sich aber von heute auf morgen ändern, spätestens im Herbst.

Robert Newald

Die einzigen Daten, denen er uneingeschränkt vertraue, seien die Sterbezahlen, sagt Franz Allerberger. Er und sein Team von der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages) erhalten die Zahlen für Österreich jeden Mittwoch von der Statistik Austria. Und dann werden sie umgehend in die Datenbank des Europäischen Mortalitätsmonitorings geladen, das unter euromomo.eu abrufbar ist.

Dort sieht man dann etwa, dass es in den vergangenen Jahren aufgrund der Grippeepidemien im Winter zu mehr Toten als sonst im Jahr kam. Für das Frühjahr 2020 zeigt sich in den meisten Ländern eine steile Kurve nach oben. "Das ist die Übersterblichkeit durch Covid-19", erklärt der Facharzt für Infektionskrankheiten. In Ländern wie Italien, Spanien und Belgien geht diese Kurve besonders weit nach oben, für Österreich hingegen ist so gut wie keine Abweichung bemerkbar. "Am Ende des Tages sind diese Mortalitätsdaten das Einzige, was für einen Public-Health-Experten wie mich zählt", sagt Allerberger.

Meldesystem für ansteckende Krankheiten

Der 64-Jährige, der das Geschäftsfeld Öffentliche Gesundheit der Ages leitet, hat mit seiner Institution nicht nur zum Zustandekommen dieses Monitoringsystems beigetragen, sondern auch dazu, dass die Pandemie in Österreich bis jetzt vergleichsweise wenige Opfer forderte. Für besonders wichtig hält er das medial wenig beachtete epidemiologische Meldesystem, das vor rund zehn Jahren eingeführt wurde: Österreichs 94 Bezirksverwaltungsbehörden tragen darin Informationen über das Auftreten von Infektionskrankheiten wie Masern oder Tuberkulose sowie lebensmittelbedingte Krankheiten ein, die zentral erfasst werden.

Dieses System habe sich bei Covid-19 bestens bewährt, sagt Allerberger in seinem Büro in der weitläufigen Zentrale der Ages im Bezirk Donaustadt am Nordostrand von Wien. In den verschiedenen Büros und Laboren der Agentur, die über mehrere Standorte in Österreich verteilt ist, laufen diese Daten zusammen. Im Zusammenspiel mit den Bezirksbehörden konnten auf dieser Weise Ausbrüche von Covid-19 lokalisiert, Infektionsketten analysiert und Cluster identifiziert werden.

Hohe Aufklärungsrate

"Das ist leichter mit einem Blick von oben", sagt der gebürtige Salzburger und bringt ein Beispiel vom Beginn der Pandemie in Österreich: "Die ersten drei positiven Corona-Fälle in Tirol wohnten nicht in Ischgl – aber wenn die Daten zusammenfließen, fällt auf, dass es da in jedem Fall einen Ischgl-Bezug gab."

Auf diese Weise konnten Mitarbeiter der Ages fast die Hälfte der rund 21.000 amtlich bestätigten Infektionen mit dem Sars-CoV-2-Virus in Österreich aufklären und rund 1.000 Clustern zuordnen. In den letzten Wochen betrug diese Rate etwa 65 bis 75 Prozent. Der Anteil der zurückverfolgten Infektionsketten und Cluster soll auch ein Faktor für die jeweilige Farbe der Corona-Ampel im Herbst sein.

Auch aufgrund dieser Analysen der Ages weiß man, wo Ansteckungen mit dem neuen Coronavirus vor allem passieren, "nämlich in Innenräumen ohne viel Abstand, wo sich Personen länger als 15 Minuten aufhalten und wo laut gesprochen wird", wie Allerberger erklärt: "Eine Après-Ski-Bar etwa ist so ein idealer Ort für die Ausbreitung des Virus oder wie zuletzt der Leichenschmaus nach einer Begräbnisfeierlichkeit."

Problem erkannt und zeitnah gelöst

Mit diesen Erkenntnissen der Virusdetektive ließen und lassen sich zeitnah Gegenmaßnahmen treffen. So konnte die Ages in den vergangenen beiden Wochen 39 neue Cluster identifizieren, von denen 15 aus dem Ausland eingeschleppt wurden: vier aus Rumänien, drei aus Serbien, zwei aus dem Kosovo. "Das Problem wurde erkannt und mit den neuen Einreisebestimmungen aus diesen Ländern gelöst", bilanziert Allerberger trocken. Nachsatz: "Unsere Gesundheitspolitiker sind zum Glück erstaunlich entscheidungsfreudig."

Allerberger, der nach einer absolvierten Tischlerlehre in Innsbruck studierte, sich dort auch habilitierte und zudem in den USA an der Mayo Clinic und der Johns Hopkins University forschte, ist ein international ausgewiesener und gut vernetzter Wissenschafter. Davon zeugen rund 500 Publikationen und auch seine langjährige Beiratstätigkeit für das deutsche Robert-Koch-Institut (RKI), zuletzt auch in leitender Funktion des RKI-Beirats für Public Health.

Markige Sprüche

In den vergangenen Wochen und Monaten war es Allerberger, der die Ages zudem in der Öffentlichkeit repräsentierte. Bei Auftritten mit den Spitzen der Regierung, aber vor allem in Interviews sorgte er immer wieder für markige Sprüche: "Das Virus hat keine Flügel", meinte er etwa. Zuletzt wartete er unter anderem mit etwas hemdsärmeligen Schätzungen zu den Infektionszahlen in Bulgarien oder dem Kosovo auf.

Allerberger gehört im Umgang mit dem neuen Coronavirus zu jenen Experten, die es nicht als "ganz gefährliches Virus" sehen wollen. So plädierte er im Beraterstab der Coronavirus-Taskforce des Gesundheitsministers etwa dafür, Schulen und Kindergärten eher nicht zu schließen. Obwohl man seinen Empfehlungen nicht folgte, nahm er in einem Ö1-Interview die Regierung nicht ohne Selbstironie in Schutz: "Sie hält sich an jene Experten, die am überzeugungskräftigsten sind. Ich war es wohl nicht."

Geschätztes Sterberisiko

Bei den Schätzungen der Mortalitätsrate von Covid-19 hält sich Allerberger an jene des US-Epidemiologen John Ioannidis (Uni Stanford), der von einem vergleichsweise geringen Wert von rund 0,25 Prozent ausgeht, der nicht unumstritten ist. "Das ist auch der Wert, der sich aus den Zahlen von Ischgl ergibt, wo bei einer Durchseuchungsrate von mehr als 42 Prozent der knapp 1.600 Bewohner nur zwei Tote vermeldet wurden", sagt Allerberger.

Im gleichen Atemzug verweist er aber auf das unterschiedlich hohe Risiko je nach Alter: "Für Personen unter 40 ist das Risiko, an Covid-19 zu sterben, im Vergleich zum Motorradfahren oder zum Bergsteigen gering." Bei älteren Menschen sehe das ganz anders aus, und natürlich mache er sich Sorgen um seine Schwiegermutter, die 84 ist, und passe gut auf, sie nicht anzustecken.

Warnungen vor dem Herbst

Während in anderen Ländern längst eine zweite Welle im Anrollen ist oder zumindest darüber geredet wird, hat Österreich laut Allerberger die Lage im Moment gut unter Kontrolle. "Im Moment ist Covid-19 zwar wegen St. Wolfgang und einiger anderer Cluster medial in aller Munde, aber nüchtern betrachtet ist es akut kein großes Problem." Auch hier erfolgt ein relativierender Nachsatz: "Das kann sich aber von heute auf morgen ändern – wahrscheinlich aber im Herbst."

Und er rät dringend dazu, einige noch verbleibende Hausaufgaben zu machen: "Vor allem dürfen wir uns im Herbst die zeitlichen Verzögerungen beim Testen, die es heute noch gibt, nicht mehr leisten. Eine amtliche Beprobung muss innerhalb von 24 Stunden erfolgen. Und nach maximal noch einmal 24 Stunden muss die betroffene Person ihr Ergebnis kennen." Seiner Meinung nach werde man nicht umhinkommen, im Herbst auch praktische Ärzte damit zu beauftragen. Die haben alle einen erprobten Laborzugang."

Langfristig zweifelt er, dass ein vollständiges Ausrotten des neuen Coronavirus gelingen könnte, wie das die WHO immer wieder ankündigte. "Ich bin da eher skeptisch", sagt Allerberger: "Meines Wissens haben wir als Gattung Mensch nur ein einziges Virus ausgerottet, nämlich das Pockenvirus. Warum das mit Sars-CoV-2 gelingen sollte, ist mir nicht klar. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt."


Sechs abschließende Fragen an Franz Allerberger

STANDARD: Wie wahrscheinlich ist es, sich in einem Supermarkt anzustecken?

Allerberger: Wir haben zwar vier Cluster in Supermärkten in Österreich, aber die betreffen ausschließlich Mitarbeiter, die sich alle untereinander – etwa in der Mittagspause im engen Sozialraum – ansteckten. Wir haben keinen Hinweis darauf, dass Kunden eines Supermarkts infiziert worden sind, wir können es aber auch nicht vollständig ausschließen. Die Wahrscheinlichkeit ist freilich gering, weil im Supermarkt wenig geredet wird und wir uns dort eher kurz aufhalten.

STANDARD: Wie lange werden uns die Masken begleiten?

Allerberger: Im Zug, im Bus, in der U-Bahn werden wir vermutlich in den nächsten ein bis zwei Jahren die Masken tragen. Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung ist dort zwar auch relativ gering, wie zuletzt auch eine chinesische Studie zeigte, aber nicht unmöglich. Im Übrigen ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich Sie jetzt beim Gespräch anstecke, auch nicht null: Manchmal rutscht mir, da ich lange in Innsbruck gelebt hat, ein "Chr" mit ein paar zusätzlichen Tröpfchen heraus.

STANDARD: Wie sinnvoll ist es aus Ihrer Sicht, dass die Polizei für Contact-Tracing eingesetzt wird?

Allerberger: Bin zwar ein gebürtiger Salzburger, aber in der Frage schlägt mein Herz eher auf der Wiener Seite. Nur ein Beispiel: Wir kennen etwa einen Ausbruch, bei dem Jugendliche in einem kleinen Raum Cannabis ausprobierten und sich dabei ansteckten. Es liegt auf der Hand, dass diese Jugendlichen in so einem Fall gegenüber einem Polizisten eher wenig auskunftsbereit sein werden.

STANDARD: Wie gut sind die Alters- und Pflegeheime vor Ansteckungen geschützt?

Allerberger: Aktuell haben wir nur ein Altersheim mit einer Neuinfektion, die über einen Zivildiener eingebracht wurde. Wer glaubt, dass wir im Herbst keinen Ausbruch in einem Altenheim mit Todesfolge sehen werden, der wird wahrscheinlich enttäuscht werden. Der Altersdurchschnitt in manchen Wiener Altersheimen beträgt über 90 Jahre, wenn da ein Ausbruch passiert, dann sind Todesfälle sehr wahrscheinlich – ob mit Corona oder an Corona macht da wenig Unterschied. Man muss aber abwägen zwischen dem Risiko einer Ansteckung und der Lage der Heimbewohner: Man kann alte und demente Personen nicht so einfach in Einzelhaft stecken. Das ist für die Betreiber natürlich eine Herausforderung.

STANDARD: Was ist von den offiziellen Covid-19-Länderstatistiken zu halten?

Allerberger: Man muss mit diesen Zahlen sehr vorsichtig umgehen. Eine Lektion, die man bei meiner Tätigkeit lernt: den Daten aus bestimmten Ländern und Regionen – etwa aus Afrika oder auch aus bestimmten Regionen in Europa – nicht zu vertrauen, weil man nicht weiß, wie sie zustande kommen. Da fehlt es einfach an Transparenz bei den Grunddaten und natürlich auch an ausreichenden Tests, weil die nicht ganz billig sind: Ein PCR-Test kommt uns auf rund 60 Euro, 35 Euro kosten allein die Reagenzien.

STANDARD: Wo ist das Ansteckungsrisiko hierzulande besonders gering?

Allerberger: Wenn Sie sich nicht bei Einheimischen anstecken wollen, dann ist Ischgl derzeit vermutlich der sicherste Ort in Österreich.