Die Protagonisten Céline und Jesse verbringen gemeinsam eine Nacht im Wien der Neunziger und kommen sich dabei näher. Sie wollen es aber bei dieser einen Begegnung belassen.

Foto: imago/Cinema Publishers Collection

Schmutzige Fassaden, alte Straßenbahnen, die an der Oberleitung Funken sprühen lassen, verrauchte Kaffeehäuser und Erni Mangold als Wahrsagerin – so oder so ähnlich hat Wien in den Neunzigern ausgesehen. Zumindest findet sich dieses Wien im Film-Klassiker Before Sunrise des amerikanischen Indie-Regisseurs Richard Linklater wieder. Vor 25 Jahren kam der Film in die österreichischen Kinos, im Sommer 1994 war in der Bundeshauptstadt gedreht worden. Ethan Hawke, damals erst angehender Hollywood-Star, spielte gemeinsam mit seiner französischen Kollegin Julie Delpy die Hauptrolle.

Die Handlung des Liebesfilms, der in keiner Bestenliste der beliebtesten Romanzen fehlt, ist rasch zusammengefasst: Der junge Amerikaner Jesse trifft die gleichaltrige Französin Céline im Zug nach Paris. Die beiden beschließen, gemeinsam in Wien auszusteigen, wo Jesse am nächsten Morgen seinen Flug zurück in die USA erwischen muss. Dann passiert nicht mehr viel. Das Paar schlendert ab den frühen Abendstunden bis in den Morgen durch die Stadt und unterhält sich über Liebe, Leben, Gott und die Welt. Es soll – so bestätigen sie einander mehrmals – ihre einzige Begegnung bleiben.

"Sonst tauschen alle Telefonnummern und Adressen aus, dann schreibt man einmal, ruft ein- oder zweimal an, und dann schläft es ein."
Julie Delpy als Céline
Foto: Robert Newald

Vom Westbahnhof aus treten Jesse und Céline ihren Rundgang zu mehr als zwanzig Orten an. Neben klassischen Schauplätzen des historischen Wiens wurde auch an einigen Plätze gefilmt, die nicht in jedem Reiseführer stehen. So fahren die beiden Protagonisten mit einer alten Straßenbahngarnitur den Ring entlang, spazieren auf die Mölker Bastei und durch die Gassen am Spittelberg, bewundern auf der Terrasse der Albertina die Aussicht auf die Staatsoper und fahren mit dem Riesenrad. Sie sehen sich aber auch den Wien-Fluss unter dem Zollamtssteg an, setzen sich in die Kirche Maria am Gestade und unternehmen einen Ausflug zum Friedhof der Namenlosen im Alberner Hafen, also in einen der äußersten Winkel der Stadt.

"Sound of Music" für Wien

Die romantischen Bilder inspirieren jeden Sommer zahlreiche Filmfans, auf den Spuren von Hawke und Delpy zu wandeln – wenn nicht gerade eine Pandemie herrscht, wohlgemerkt. Before Sunrise dürfte sich jedenfalls für das romantische Image Wiens ausgezahlt haben, meint Walter Straßer, der Sprecher von Wien Tourismus. Filme seien zwar nicht alleine für die Reiseentscheidung verantwortlich, beeinflussten diese aber oft. Dass nicht nur Der dritte Mann, James Bond und Mission Impossible Zugpferde für Wien seien, sondern auch Before Sunrise, könne man etwa daran erkennen, wie viele Menschen ihre Wien-Bilder auf Instagram unter dem Before Sunrise-Hashtag posten, sagt Straßer.

Auch auf Youtube finden sich zahlreiche Videotagebücher von Filmfans vorrangig aus den USA, Großbritannien oder Asien, die von Jesse und Céline besuchte Orte finden wollen. Besonders engagierte Cineasten haben dafür sogar eigens Routen veröffentlicht, anhand derer man die Drehorte am praktikabelsten abgehen kann. Denn wie Wiener sofort erkennen, dient die Abfolge der Schauplätze mehr der Dramaturgie als einer realen Abbildung der Entfernungen in der Stadt.

Nur Requisite

Ein Ort, der in kaum einem der Before Sunrise-Vlogs auf Youtube fehlt, ist der Schallplattenhandel Teuchtler in Mariahilf. Gegründet wurde der Laden im Familienbesitz schon vor mehr als 60 Jahren und war dementsprechend auch beim Dreh 1994 in der Windmühlgasse 10 vorzufinden. Jesse und Céline besuchen das Geschäft zu Beginn ihrer Tour und hören sich in einer Abhörkabine eine Platte von Kath Bloom an. Die Abhörkabine gibt es heute nicht mehr, sie wurde lediglich für den Film eingebaut und nach dem Dreh wieder entfernt.

Vor allem Fans aus China und Südkorea besuchen das Geschäft im Sommer oft, erzählen die Betreiber. "Die Touristen sind begeistert, weil es noch immer so aussieht wie im Film." Neu hinzugekommen ist nur das Before Sunrise-Filmplakat hinter der Theke. Ebenfalls an der Wand hängt eingerahmt die Bloom-Schallplatte Come Here, die Jesse und Céline im Film hören. Sie ist jedoch nur eine Filmrequisite, die LP wurde extra gebastelt, der Song erschien nie auf Vinyl. Die filmaffinen Besucher genießen die Atmosphäre und fotografieren viel, erzählen die Teuchtlers. "Das nervt zwar manchmal ein bisschen, aber in Zeiten wie diesen fehlt es einem dann auch wieder." Schließlich halten die asiatischen Touristen im Sommer auch das Geschäft am Laufen, in Zeiten von Corona fallen diese Besuche aus.

Klischee im Kaffeehaus

Ähnlich dürfte es weiteren Drehorten wie dem Kleinen Café und dem Café Sperl ergehen. Auch diese Lokale werden im Laufe der Nacht zu Haltepunkten von Jesse und Céline. Besonders im Café Sperl wird dabei kein Wien-Klischee ausgelassen. In einem Schwenk durch das Kaffeehaus-Publikum unterhalten sich Intellektuelle mit langen Bärten, Halbglatze und langem Haarschopf über Egon Schiele und Otto Wagner, eine Gruppe junger Erwachsener spricht über das Wiener Nachtleben, und ein amerikanisches Ehepaar beschwert sich über den langsamen Service.

"Hier geht wirklich die Zivilisation vor die Hunde. Wo ist die Kellnerin? In New York hätte man sie längst gefeuert."
Amerikaner im Café Sperl

Touristen setzen sich gerne an den Tisch, an dem Jesse und Céline einander vormachen, ihre besten Freunde auf einem imaginierten Telefon anzurufen, um von ihrer Begegnung in Wien zu erzählen. Es ist der vierte Tisch links neben der Bar.

imago images/Ronald Grant

Während sich an der Innenausstattung des Café Sperl nichts geändert hat, muten andere Situationen im Film aus heutiger Sicht fast absurd an. Zu späterer Stunde spazieren die Protagonisten etwa am menschenleeren Donaukanal entlang. Auf Höhe des Otto Wagner Schützenhauses werden sie schließlich von einem vermeintlichen Bettler in weitem Anzug und aufgeknöpftem weißem Hemd unterbrochen, der rauchend auf einer der steinernen Stiegen sitzt und in einem Notizbuch kritzelt. Er bietet ihnen für etwas Geld ein Gedicht an, in dem ein Wort vorkommt, das sie selbst wählen dürfen. "Die Wiener Art zu betteln", wie Jesse anmerkt.

Dabei sind dichtende Bettler in Wien heute wie damals grundsätzlich eher rar. Inzwischen müssten sich Jesse und Céline außerdem am abendlichen Donaukanal an Scharen von jungen Wienern vorbeidrängen und dem einen oder anderen Bierverkäufer am Rad ausweichen.

Ungewöhnlich wird es auch am Spittelberg. Dort beobachten der Amerikaner und die Französin mitten in der Nacht in den verzweigten Gassen die Aufführung einer Bauchtänzerin, einen Geburtstanz, wie Céline erklärt. Zwar mag der boboeske Spittelberg dank Hummus und Falafel in diversen Frühstückslokalen einen Hauch von Orient versprühen, Bauchtänzerinnen sind dann aber doch nicht üblich.

Imperiale Kulisse

Ein anderes Lokal, in dem das Paar zu späterer Stunde einkehrt, ist heute sogar verschrottet. Nur rund einen Kilometer vom Otto Wagner Schützenhaus entfernt ankerte bis 2018 die "Johann Strauß", ein ehemaliges Passagierschiff der ersten Donaudampfschifffahrtsgesellschaft, das ab 1986 am rechten Ufer des Donaukanals auf Höhe des Schwedenplatzes als Restaurant und Partyschiff geführt wurde. In seinen letzten Jahren stand es allerdings leer, war mit Graffitis beschmiert und wurde baufällig, bis es die Stadt Wien – nach einem langen Streit mit dem Betreiber – abschleppen ließ.

26 Jahre sind eben nicht spurlos an Wien vorübergegangen. Dennoch heftet Before Sunrise eine gewisse Zeitlosigkeit an, die den Film auch für jüngere Generation ansprechend macht. In Wiener Sommerkinos ist der Generation-X-Klassiker ein Dauerbrenner. Filmliebhabern dient Wien nicht nur als Kulisse für die romantische Begegnung, viele sehen die Stadt sogar als dritten Hauptdarsteller.

Foto: imago/Cinema Publishers Collection
Foto: Robert Newald

Denn trotz einiger Veränderungen zeigt Before Sunrise einen schönen Querschnitt der Donaumetropole, glaubt auch Axl Newrkla, Geschäftsführer der Filmproduktionsfirma Wiener Klappe. Er war beim Dreh des Films als Set-Location-Manager für die Auswahl der Drehorte zuständig. Auch wenn Wien heute mehr moderne Arcihtektur und neue Plätze biete, würde er wieder dieselben Orte vorschlagen, glaubt Newrkla. Denn einerseits wollte man im Film das traditionell-historische Wien zeigen, andererseits mussten die Locations zum Drehbuch passen. "Die beiden sollten unter sich bleiben und sich unterhalten. Da hätte ein voller Stephansplatz gestört."

Nostalgie ohne Handys

Die Wien-Tour von Jesse und Céline endet dort, wo sie begonnen hat: am Wiener Westbahnhof. In letzter Minute gestehen sie einander ein, dass sie sich doch wieder treffen wollen. Sie tauschen jedoch weder Adressen noch Telefonnummern aus, sondern beschließen, sich in genau sechs Monaten wieder am Gleis 12 zu sehen. Etwas, das man heute nicht mehr so machen würde, meinte Schauspieler Ethan Hawke erst im Juni bei einem Home-Streaming des Film mit dem Toronto International Film Festival. "Wenn die Geschichte heute passieren würde, wäre die Entscheidung, keine Telefonnummern auszutauschen und sich nicht anzurufen, viel bedeutsamer." Den Siegeszug des Handys und des Internets hatte man damals nicht vorhergesehen.

Vielleicht ist es gerade die nostalgische Vorstellung einer Begegnung ohne Smartphones, die junge Menschen für den Film begeistert. Und so fahren auch mehr als zwei Jahrzehnte nach Ethan Hawke und Julie Delpy Twentysomethings aus aller Welt nach Wien, um im Moment zu leben, sich abseits von Social Media zu vernetzen und sich vielleicht sogar zu verlieben – und sei es nur in eine geschichtsträchtige Stadt mit charmanten Kaffeehäusern und altertümlichen Gassen. (Davina Brunnbauer, 1.8.2020)