Der Geflohene als Projektionsfläche: Welket Bungué verkörpert Francis, den schwarzen Antihelden, in der Neuverfilmung von "Berlin Alexanderplatz".
Foto: Constantin / Frédéric Batier

Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz erschien vor gut 90 Jahren. Seither begleitet er Deutschland durch die Zeiten und Systeme. Nahezu jede Generation macht sich ihr eigenes Bild von den Erlebnissen Franz Biberkopfs in einer überwältigenden, gnadenlosen Großstadt. Es fehlt eine Wirtschaftswundervariante aus den 50er-Jahren, aber damals passte der Stoff vielleicht am wenigsten in den Zeitgeist. Rainer Werner Fassbinder machte aus Berlin Alexanderplatz eine Fernsehserie, eine düstere Revue seiner Obsessionen.

Und nun kommt von Burhan Qurbani, einem jungen Deutschen mit Familiengeschichte in Afghanistan, eine Adaption, die mit beinahe schlafwandlerischer Intuition einen Querschnitt durch die Anliegen und Schwierigkeiten einer komplizierten Gegenwart gibt. Dabei ist der Umstand, dass Franz Biberkopf in diesem Fall aus Afrika kommt, nur ein Aspekt. Ein anderer ist die generelle Sehnsucht nach dem Berlin der 1920er-Jahre, nach einer Zeit der Pracht und der Dekadenz, wie sie sich im Erfolg der Serie Babylon Berlin zu erkennen gibt.

Perfekte postkolonial

Die neuen mentalen Geografien von heute spiegeln sich in dem Umstand wieder, dass Qurbani die Hauptrolle an Welket Bungué vergeben hat, einen nahezu perfekten Repräsentanten postkolonialer Verhältnisse, mit persönlichen Bezügen zu Guinea-Bissau, Portugal, Brasilien und Berlin. Der Franz muss hier erst zu seinem Namen kommen, er heißt anfangs noch Francis und gehört zu einer Gruppe von Schwarzen mit prekärem Status, die illegal auf Baustellen arbeiten. Wenn einer dort einen Unfall hat, soll niemand die Rettung rufen.

Qurbani folgt Francis in eine Unterkunft, bei der man an die Orte denken kann, an denen in Deutschland viele Menschen mit ungewissem Status zur Untätigkeit verurteilt sind. Hier trifft er auf die zweite Hauptfigur des Films: Reinhold sucht Mitarbeiter für den Drogenhandel. Unübersehbar bezieht Qurbani sich dabei auf geläufige Bilder vom Marihuana-Handel im Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg: Die Dealer sind nahezu ausschließlich Afrikaner, und über das angemessene Vorgehen von Politik und Polizei wurde in Deutschland immer wieder intensiv debattiert. Albrecht Schuch (bekannt aus Bad Banks oder Systemsprenger) verleiht der Figur des Reinhold eine dämonisch-groteske Dimension. Es ist ein Auftritt, der noch in der Übertreibungskunst des frühen Kinos wurzelt und doch psychologische Nuancen zulässt.

Alter und neuer Rassismus

Zwischen Francis und Reinhold beginnt ein (Ohn-)Machtspiel, in dem sich viele Facetten eines alten und neueren Rassismus erkennen lassen. Für den körperlich wie seelisch deformierten Reinhold wird Francis zu einer Art Stellvertreter seiner inneren Konflikte, nicht zuletzt auch zu einem Medium seiner zerrütteten Sexualität. Francis ist nicht einmal im vollen Sinn ein Antiheld, eher eine attraktive Leerstelle, auf die sich Projektionen richten.

Die Liebe zu Mieze (Jella Haase) lässt Franz, wie er bald getauft wird, für eine Weile von einem normalen Leben träumen, und auch Mieze träumt diesen Traum. Sie kennt aber zugleich schon dessen Ende, denn sie ist die Erzählerin, ihre Stimme weiß schon alles über Francis, als die Geschichte erst beginnt. Damit gibt Qurbani seinem Verhältnis zu der literarischen Vorlage eine starke Pointe. Bei Döblin ging es darum, aus einem einfachen Mann, einem ehemaligen Zement- und Transportarbeiter, eine Figur zu machen, auf die eine ganze Epoche einprasselt. Dieses Missverhältnis zwischen einem Einzelnen und einer Welt brachte er in einem kühnen sprachlichen Mix zum Ausdruck.

Mondäne Halbwelt

Burhan Qurbanis Film ist hingegen von einer zugänglichen Ästhetik geprägt, vor allem, wenn man sich an die legendär finsteren Szenen bei Fassbinder erinnert. Ein kaltes Licht liegt über vielen Außenaufnahmen, und wenn Francis sich in der mondänen Halbwelt bewegt, dann geht es niemals um eine ausgestellte Opulenz, sondern um eine Welt, die sich zumindest beim Feiern als grenzenlos sehen möchte.

Über die drei Stunden der Erzählung spannt Qurbani einen Bogen, in dem er auch vor starken Zeichen nicht zurückscheut: Francis bekommt keine Vorgeschichte in Afrika im engeren Sinn, sondern eher ein mythisches Herkunftsbild; das Verhältnis zu Mieze bekommt schließlich auch Aspekte der christlichen Ikonografie. Und das Reizwort Deutschland wird in einer angemessen zweideutigen Szene zu einem Anfeuerungsbegriff, um den sich die dabei mitzudenkenden Rechtspopulisten von AfD bis Pegida mit den rechtlosen Schwarzen streiten können.

Collage der Projektionen

Denn es wird darin mehr als nur zweideutig, ob es eine Frage der Hautfarbe, oder eine Frage der kulturellen Klischees ist, was einen Deutschen ausmacht. Qurbani wird niemals zu eindeutig in seinen Bezügen, aber er hat doch einen mustergültigen Gegenwartsfilm gemacht. Vor allem nimmt er sich selbst nicht aus dem Spiel: Sein Franz Biberkopf ist auch eine Collage seiner Projektionen, seines Blicks auf Deutschland, der zugleich Mainstream und minoritär ist.

Bei aller Fatalität ist der Schwarze Franz Biberkopf nicht so sehr seiner "Schwärze" wegen, sondern wegen einer Übermacht an Differenzerfahrungen insgesamt genau die Figur, an der Deutschland und Österreich sich gerade messen lassen sollten. (Bert Rebhandl, 1.8.2020)