Im Zuge der Erkundung eines Stollens erschienen im Licht der Taschenlampe Schriftzeichen, die aufgrund ihrer kyrillischen Schreibweise für mich nicht zu interpretieren waren. Erst nach der Entzifferung und Übersetzung stand fest, dass es sich dabei um einen Namen handelte. So konnte ich eine Personensuchanfrage an die KZ-Gedenkstätte Mauthausen stellen. Nach wenigen Wochen schon erhielt ich die Antwort, dass es tatsächlich einen Häftling dieses Namens gab.

Kurze Geschichte der Konzentrationslager Mauthausen und Gusen

Die SS konzipierte bereits im Mai 1938 mit dem KZ Mauthausen auch das Konzentrationslager Gusen. Der Lagerkomplex Mauthausen-Gusen stellt somit ein Sondersystem dar, weil es im Gegensatz zu anderen großen Konzentrationslagern schon früh als Doppellager geplant und ausgebaut wurde. Dass das KZ Gusen all die Jahre seit Ende des Krieges vergessen wurde, ist angesichts seiner Größe unverständlich, denn es hatte den gleichen Umfang wie andere Stammlager, etwa Dachau oder Buchenwald. Dennoch unterstand es formell seinem Stammlager Mauthausen, wenngleich bis Februar 1944 in Gusen ein eigenständiges Häftlingsnummernsystem zur Anwendung kam. Gusen war also nie nur ein Neben- oder Außenlager des KZ Mauthausen, sondern von Anfang an als gleichwertiger Teil eines Doppellagers geplant.

Der Wert des Lagers Gusen bestand anfangs in seinen Granitsteinbrüchen, aus denen die Zwangsarbeiter hochwertige Steine für bekannte nationalsozialistische Prunkbauten – etwa das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg oder die Reichsautobahnen – brechen mussten, während im Steinbruch Wienergraben in Mauthausen nur das Material für Straßenpflaster abgebaut wurde.
Diese zentrale Bedeutung des DESt-Betriebes in Gusen ist mit ein Grund, warum die Verwaltungszentrale für dieses KZ-Doppellager ab Anfang 1940 in St. Georgen an der Gusen und nicht in Mauthausen errichtet wurde.[1]

Mauthausen

Ende März 1938 wurde von Gauleiter August Eigruber die Einrichtung eines Konzentrationslagers im damaligen Oberdonau verkündet. Dieses sollte in Mauthausen entstehen und war zur Aufnahme politischer Gegner des Nationalsozialismus, krimineller oder sogenannter „asozialer“[2] Personen. Der Aufbau des Lagers begann ab August mit Häftlingen, die aus Dachau überstellt worden waren. Bis zur Inbetriebnahme des KZ Mauthausen an seinem endgültigen Standort war ein provisorisches Lager im Wiener Graben eingerichtet worden.

In den ersten Jahren seines Bestehens galt die primäre Ausrichtung des KZ Mauthausen dem Abbau von Granit durch die Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH[3]. Dabei handelte es sich um ein Wirtschaftsunternehmen der SS, das aus der Zwangsarbeit Gewinne schöpfte, indem es die Steine an die Reichsbaudirektion und andere wichtige Abnehmer verkaufte. Das Lager stand in den ersten Monaten seiner Existenz unter der Leitung von Albert Sauer. Bereits im Februar 1939 wurde er von Franz Ziereis abgelöst, der diese Funktion bis Kriegsende ausübte.

Ab den Jahren 1941 und 1942 wurden die Häftlinge der Konzentrationslager verstärkt zum Arbeitseinsatz außerhalb des Stammlagers eingesetzt, wofür über 40 Außenlager in der Umgebung der jeweiligen Bau- und Arbeitsstellen errichtet wurden. Sie arbeiteten nun für Rüstungsfirmen, im Kraftwerks- oder Straßenbau. In dieser Phase der Zwangsarbeit besserten sich die Haftbedingungen ein wenig, die nun darauf ausgerichtet waren, die Arbeitskraft der Insassen über einen längeren Zeitraum zu erhalten.

Ab etwa 1942 wurden – vorerst nur in geringem Umfang – KZ-Häftlinge in Rüstungsbetrieben oder auf kriegswichtigen Baustellen eingesetzt. Erst ab Frühling 1943 wurde diese Zusammenarbeit mit der Rüstungsindustrie intensiviert.Als die Häftlinge jedoch ab 1944 auch zum Bau von unterirdischen Rüstungsverlagerungen gezwungen wurden, verschlechterten sich die Haftbedingungen wieder. Aufgrund der lebensgefährlichen Arbeitsumgebungen, der unzureichenden Ausstattung und der kompromisslosen Ausschlachtung der menschlichen Arbeitsenergie stiegen die Opferzahlen wieder in hohem Maße.

Mit der Zeit befanden sich mehr KZ-Insassen in den Außenlagern als in Mauthausen selbst. Häftlinge, die aufgrund von Krankheit, Erschöpfung oder Misshandlung durch Aufseher nicht weiter in den Außenlagern arbeiten konnten, wurden nach Mauthausen zurückgeschickt, was fast immer ihren Tod bedeutete. Als in den letzten Kriegsmonaten viele Transporte aus dem Osten evakuierter KZ-Häftlinge in Mauthausen eintrafen, erhöhte sich die Sterblichkeit unter den Häftlingen noch einmal drastisch. Die Baracken waren völlig überbelegt, die Nahrungsmittelversorgung sank kontinuierlich und Krankheiten breiteten sich ungehindert aus. Circa 190.000 Häftlinge waren im KZ Mauthausen registriert, mindestens 90.000 von ihnen überlebten die Haft nicht oder starben an deren Folgen.[4]

Gusen

In den Steinbrüchen bei Gusen wurden bereits 1938 Häftlinge des KZ Mauthausen zur Arbeit gezwungen. Zu diesem Zeitpunkt war hier noch kein eigenes Lager errichtet worden. Der kräfteraubende tägliche Marsch über vier Kilometer vom provisorischen Lager im Wiener Graben bei Mauthausen zu den Gusener Brüchen forderte im Winter 1938/1939 durchschnittlich 150 Todesopfer pro Monat.

Das Lager in Gusen wurde im Mai 1940 offiziell in Betrieb genommen und war dem KZ Mauthausen unterstellt – in seinem Umfang war es anfangs für die gleiche Häftlingszahl wie im Stammlager konzipiert worden. Doch schon 1941 übertraf die Anzahl der Häftlinge in Gusen jene von Mauthausen, was abgesehen vom Jahr 1943 auch bis Kriegsende so blieb. 1945 lag die Häftlingszahl in den Gusener Lagern mit 25.000 etwa doppelt so hoch wie in Stammlager. Bis Ende 1942 fungierte Karl Chmielewski als Lagerführer und von Ende 1942 bis zur Befreiung Fritz Seidler.

Die Insassen wurden in erster Linie zur Arbeit in den Steinbrüchen herangezogen, wo ein großer Teil durch Misshandlung und systematische Überarbeitung bei minimalen Nahrungsrationen den Tod fand. Ab 1. Jänner 1941 wurde der Lagerkomplex Mauthausen-Gusen als KZ der Stufe III klassifiziert, was de facto bedeutete, die Häftlinge durch die Arbeitsbedingungen zu töten. Die Rückkehr der Insassen in die Gesellschaft war unerwünscht, da sie im nationalsozialistischen Sinne als kaum noch erziehbar galten.

Als ab März 1944 der Bau der Untertageverlagerung mit dem Decknamen „B8 Bergkristall“ in St. Georgen an der Gusen in Angriff genommen wurde, errichtete die SS zuvor ein zweites Konzentrationslager (KZ Gusen II), das nur wenige hundert Meter westlich des ersten (KZ Gusen I) lag und am 9. März eröffnet wurde. Hier waren jene Arbeitskommandos untergebracht, die für dieses Bauprojekt der Rüstungsverlagerung vorgesehen waren.

Die Haftbedingungen waren entsetzlich: Das Lager bestand fast nur aus den völlig überbelegten Baracken – sanitäre, hygienische Einrichtungen sowie medizinische Versorgung fehlten beinahe vollständig, die Essensrationen nahmen im Laufe der Zeit kontinuierlich ab und reichten weder aus, die Arbeitskraft zu erhalten noch das Leben selbst. Die durchschnittliche Dauer von der Einlieferung eines Häftlings bis zu seinem Tod betrug etwa vier Monate. Vor allem jüdische Häftlinge starben infolge von Misshandlungen und der Zuteilung gefährlichster Arbeiten unter völligem Verzicht auf notwendigste Sicherungsmaßnahmen meist nach nur wenigen Tagen.

Die Suche nach einem Schlafplatz im überfüllten Lager nach der Tortur im Arbeitseinsatz war jedoch nicht die einzige Sorge der Häftlinge – auch das Trinkwasser war knapp: Das aus der Donau zugeleitete Wasser galt als verseucht und potenziell tödlich. Überlebende beschreiben Gusen II als die Hölle aller Höllen. Von über 11.000 toten Häftlingen in den Gusener Lagern zwischen Mai 1944 und April 1945 waren über 8.000 in Gusen II gestorben.

Ende 1944 wurde ein weiteres Konzentrationslager für etwa 250 bis 300 Häftlinge in Betrieb genommen – das Lager Gusen III mit Standort Lungitz. Hier arbeiteten bereits zwischen 1941 und 1943 KZ-Häftlinge aus Gusen in einer Ziegelei. Nachdem diese 1943 ihren Betrieb einstellte, nutzte man die leere Fabrik als Teilelager für die Messerschmitt-Flugzeugproduktion. Gleichzeitig wurde eine Großbäckerei erbaut, in der das Brot für die Konzentrationslager Mauthausen und Gusen gebacken werden sollte. Sie nahm ab Februar 1945 die Produktion auf.[5]

Die Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH (DESt)

Zur Ausgestaltung der monumentalen Bauten, deren Errichtung im zwölfjährigen tausendjährigen Reich in einigen Städten geplant war, wurden die entsprechenden Baustoffe in rauen Mengen benötigt. Prunkbauten in noch nie gekanntem Ausmaß sollten etwa in Berlin, Nürnberg, Linz und einigen anderen Städten entstehen – alles bisher in der Weltgeschichte Erbaute sollte in ihrem Schatten verblassen.

Um den Einfluss der SS in allen Bereichen der NS-Führung zu erhöhen, gründete sie im April 1938 die Deutsche Erd- und Steinwerke Gmbh, kurz DESt, und damit ein auf Zwangsarbeit beruhendes florierendes Wirtschaftsunternehmen, das sich im Laufe der folgenden Jahre zu einem Großunternehmen entwickelte. Dieses suchte im Reichsgebiet nach geeigneten Steinbrüchen, in denen das Rohmaterial zur Verwirklichung der architektonischen Planungen abgebaut werden sollte.

Personelle Überschneidungen zwischen dem KZ-Personal und der DESt bestanden unter anderem an leitender Stelle: Ab 1942 füllte etwa Franz Ziereis, der oben bereits erwähnte Kommandant des Lagers Mauthausen, die Funktion eines Betriebsdirektors der Werkgruppenleitung St. Georgen aus.

Da die SS mit den Häftlingen der Konzentrationslager über Arbeitskräfte verfügte, die nach Ansicht der Verantwortlichen ohne Zurückhaltung ausgeschlachtet werden konnten, war von vorneherein klar, dass die Erlöse aus dem Handel mit Baustoffen zum größten Teil der SS zugute kommen würden und so gut wie nichts an die hunderttausenden Zwangsarbeitskräfte ausbezahlt werden müsste.

Bei ihrer Suche nach geeigneten Steinbrüchen stieß die DESt auf jene in Mauthausen und Gusen. Bestanden die ersten Jahre der Tätigkeit der DESt darin, unter Ausnutzung der KZ-Häftlinge einerseits die Steine abzubauen und andererseits die für die weitere Bearbeitung notwendige Infrastruktur aufzubauen, so änderte sich dies in den letzten Kriegsjahren.

Zwischen 1943 und 1945 intensivierte sich zunehmend die Zusammenarbeit der DESt mit verschiedenen Rüstungsfirmen. Die KZ-Häftlinge waren jetzt nicht mehr nur beim Bau der Fabrikationsanlagen eingesetzt, sondern auch in der Produktion der Rüstungsgüter. Im Bereich der Konzentrationslager in Gusen betraf das zum einen die Steyr-Daimler-Puch AG (SDP), die in der Stollenanlage mit dem Decknamen „Kellerbau“ Waffen produzierte. Zum anderen war das die Messerschmitt GmbH, die in der unterirdischen Rüstungsverlagerung mit der Tarnbezeichnung „B8 Bergkristall“ unter dem Decknamen „Esche II“ eine Rumpf- und Tragflächenfertigung für ihr Düsenjägermodell Me 262 einrichtete und betrieb. Da die Stollenbauarbeiten rücksichtslos vorangetrieben wurden, starben tausende Häftlinge der Gusener Konzentrationslager bei der Errichtung der Anlagen „Kellerbau“ und „Bergkristall“, während andere Häftlinge bereits in der Produktion arbeiteten.[6]

Die Siedlung der DESt

Im Winter 1939/1940 wurde mit Häftlingen aus Mauthausen das Lager Gusen I aufgebaut. Damit war eine deutliche Zunahme an Bewachungspersonal der SS verbunden, für die nun dringend Wohnmöglichkeiten zu finden waren. Löste die SS dieses Problem anfangs durch die Beschlagnahme von Wohnungen und Häusern der Zivilbevölkerung, so plante man Anfang 1940 eine eigene Siedlung für Angehörige der DESt und des KZ-Personals – unter dem Namen „Stein und Erde“ wurde sie im Osten von St. Georgen projektiert.

1941 entstanden daraufhin im Bereich der heutigen Mauthausener Straße 27, 29 und 31 Verwaltungsgebäude der DESt mit angeschlossenen Wohnungen. Die Werkgruppenleitung St. Georgen an der Gusen („Granitwerke Mauthausen“), die für die wirtschaftliche Verwertung des durch Zwangsarbeit aus den Steinbrüchen gewonnenen Materials des gesamten Mauthausen-Gusen-Komplexes zuständig war, richtete sich in diesen Neubauten ein. Im Laufe der folgenden Jahre entwickelte sie sich zur größten Werkgruppe der DESt.

In den Wohnungen dieser Objekte zogen im Mai 1941 der Kommandant des KZ Mauthausen Franz Ziereis und im Juli der Schutzhaftlagerführer I Georg Bachmayer sowie die Schutzhaftlagerführer des KZ Gusen und weitere SS-Funktionäre ein. Entlang der heutigen Siedlungsstraße wurden noch 1941 Doppelwohnhäuser als Teil der „Stein und Erde“-Siedlung errichtet.[7]

Der russische Kriegsgefangene Jakow Kolganow

Von Oktober 1941 bis 1945 wurden über 6.000 russische Kriegsgefangene neben anderen Häftlingsgruppen in den Konzentrationslagern von Gusen interniert. Wie die Gruppe der Juden, Roma und Sinti hatten sie die geringste Überlebenschance. Sie unterlagen der Willkür gewalttätiger Bewacher, wurden mit unzureichender Bekleidung ausgestattet und mit viel zu wenig Nahrung versorgt. Nach den Eintragungen des Standortarztes im Totenbuch starben mehr als 3.000 der russischen Kriegsgefangenen, die tatsächliche Zahl der Toten dieser Häftlingsgruppe beläuft sich aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auf über 4.000.[8]

Der Krieg an der Ostfront tobte bereits das dritte Jahr, als Jakow Kolganow[9] im Frühjahr 1944 in Gefangenschaft geriet. Er wurde ins Durchgangslager 376 im litauischen Kaunas[10] gebracht und anschließend für den Transport in das KZ Mauthausen bestimmt. Am 12. April 1944 kam er mit weiteren 102 russischen Kriegsgefangenen dort an, wo ihm im Zuge der Registrierung die Häftlingsnummer 63363 zugeteilt wurde. Gemäß der „Liste der Zugänge vom 12. April 1944“ des Schutzhaftlagers Mauthausen und dem Eintrag im Häftlingszugangsbuch der politischen Abteilung stammte er aus dem Ort „Schurawietz“. Diese Ortsangabe war die deutsche Schreibweise für das Dorf Zhuravets (kyrillisch „журавец“) in der Oblast Orjol. Sein Geburtsdatum wird mit 23. Oktober 1922 angegeben und von Beruf war er Bautechniker.[11] Ansonsten gibt es zu seiner Person kaum weitere Informationen, außer seiner Religionszugehörigkeit, die als orthodox angegeben wurde und seinem ledigen Familienstand.[12]

Von 10. Mai bis 12. Juni 1944 leistete Kolganow für die DESt in Mauthausen Zwangsarbeit, eventuell im Steinbruch Wiener Graben. Anschließend kam er – vermutlich wegen seiner Qualifikation als Bautechniker – nach Gusen, wo er ebenfalls für die DESt arbeiten musste. Der genaue Eintrag in der Häftlings-Personal-Karte lautet: „Gusen St. Georgen Dest“, was aufgrund der Ortsangabe „St. Georgen“ darauf hindeutet, dass er dem Arbeitseinsatz für das Projekt „Bergkristall“ zugeteilt worden war, das sich zu jenem Zeitpunkt auf St. Georgener Gemeindegebiet in Errichtung befand.[13] Die Häftlinge, die an diesem Bauprojekt arbeiten mussten, wurden im Lager Gusen II interniert. Ob es tatsächlich dieses Bauvorhaben war, weswegen Kolganows Eintrag auf „St. Georgen“ lautete, kann aufgrund der Informationen im folgenden Kapitel diskutiert werden.

In diesem Stollen hinterließ Jakow Kolganow sein Lebenszeichen.
Foto: Thomas Keplinger

Jakow Kolganows Arbeitsplatz

Frühestens 1941 war es, als der zur Siedlung gehörige Luftschutzstollen in den Hang getrieben wurde. Viel wahrscheinlicher jedoch hat man aufgrund der jahrelangen Ruhe im Luftraum mit dem Bau dieses Stollens bis 1944 gewartet. Denn erst als Italien ab Herbst 1943 als Verbündeter Deutschlands wegfiel, konnten die Bomberverbände von Foggia aus nun auch Ziele in Österreich anfliegen, womit die Gefahr amerikanischer Bombenangriffe erheblich stieg.

Der Stollen ist etwa 85 Meter lang[14], verfügte ursprünglich über zwei Eingänge und unterscheidet sich durch die zu seiner Auskleidung verwendeten behauenen Steine in auffälliger Weise von den meisten Luftschutzanlagen, die anderswo zu finden sind. Da Beton 1944 streng rationiert und nur den dringendsten Bauvorhaben zugeteilt wurde, behalf man sich so mit dem durch die Steinbrüche naheliegendsten Baumaterial. Eventuell ist auch davon auszugehen, dass für das örtliche DESt- und KZ-Personal eine „gehobenere“ Luftschutzanlage zur Verfügung stehen sollte.

Jakow Kolganow wurde zur Errichtung dieses in einem Wäldchen gelegenen Stollens herangezogen. In die Fugen zwischen den Steinen ritzte er in einem unbeobachteten Moment seinen Namen und Herkunftsort sowie die ihm zugewiesene Häftlingsnummer.

Jakow Kolganows eingeritzter Name in kyrillischer Schreibweise.
Foto: Thomas Keplinger

Dass Kolganow das Kriegsende erlebte, obwohl er als russischer Kriegsgefangener im KZ Gusen II so gut wie keine Überlebenschance hatte, die über ein paar Wochen hinausreichte, könnte an zwei Gründen liegen: Einerseits war er Bautechniker und somit eventuell von fachlichem Wert bei der Errichtung von Stollenbauten und andererseits war er nicht – wenigstens nicht für die gesamte Dauer seiner Haft in Gusen – beim Projekt „Bergkristall“ im Einsatz. Die Arbeitsbedingungen in dem kleineren Kommando, das zum Bau dieses Luftschutzstollens gebildet wurde, waren vermutlich etwas besser als jene in der Rüstungsverlagerung.

Möglicherweise war er aber nicht im KZ Gusen II interniert, sofern hier generell keine Arbeitskommandos gebildet wurden, die nicht an oder in der Anlage „Bergkristall“ zu arbeiten hatten. In diesem Falle wäre er ein Häftling des KZ Gusen I gewesen. Die Antwort auf diese Frage entzieht sich derzeit meiner Kenntnis.

Links die Häflingsnummer 63363 und rechts der Herkunftsbezirk Orjol in kyrillischer Schreibweise
Foto: Thomas Keplinger

In der Nacht von 2. auf 3. Mai 1945 ergriffen die letzten SS-Angehörigen die Flucht und übergaben das Kommando über das Lager an die Wiener Feuerschutzpolizei. Informationen des Archivs der KZ-Gedenkstätte Mauthausen zufolge erlebte Jakow Kolganow die Befreiung durch amerikanische Truppen am 5. Mai. Sein weiteres Schicksal ist mir nicht bekannt. (Thomas Keplinger, 6.8.2020)

Dank gilt Peter Egger/Sammlungen der KZ-Gedenkstätte Mauthausen (für die Archivinformationen); Rudolf A. Haunschmied/Gedenkdienstkommittee Gusen (für historische Informationen, Kontaktinfos); Natalia Lagureva/Befreiungsmuseum Wien (für Übersetzung und Ortsangabe); Familie Mayrhofer/Eigentümer des Stollens (für die Besichtigungsmöglichkeit); Bernhard Mühleder/KZ-Gedenkstätte Mauthausen (für Auskünfte und Informationen zum Stollen)

Fußnoten

[1] Ergänzung des Artikels auf Basis einer Zuschrift durch Herrn Rudolf Haunschmied am 21. Mai 2020.

[2] Als asozial galten: „Neben wirklichen Landstreichern, Speckjägern, kleinen Taschendieben und Jahrmarktgaunern, notorischen Säufern, Zuhältern und Alimentendrückebergern gab es unter den als asozial Verhafteten auch genug Leute, denen nichts anderes vorzuwerfen war, als daß sie etwa zweimal zur Arbeit zu spät gekommen waren oder unberechtigt Urlaub genommen, ohne Genehmigung des Arbeitsamtes den Arbeitsplatz gewechselt, ihr nationalsozialistisches Dienstmädchen ‚schlecht behandelt‘, als Eintänzer ihr Brot verdient hatten, und was dergleichen ‚Vergehen‘ mehr waren. Hunderte deutscher Betriebsführer, stramme Parteigenossen, haben Gefolgschaftsmitglieder, die ihnen aus irgendwelchen Gründen nicht paßten, einfach als ‚arbeitsscheu‘ angezeigt, worauf sie in Arbeitslager oder KL überstellt wurden“,
siehe Eugen Kogon, Der SS-Staat (44. Auflage, München 2006), S. 69.

[3] Die Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH (DESt) war ein Unternehmen der SS innerhalb des Amts W 1, dessen Zuständigkeit auf „Steine und Erden (Reich)“ lautete. Dieses Amt unterstand der Amtsgruppe W (Wirtschaftsunternehmungen) des Wirtschaftsverwaltungshauptamts (WVHA) mit Sitz in Berlin, siehe Enno Georg, Die wirtschaftlichen Unternehmungen der SS (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7, Stuttgart 1963), S. 30.

[4] Grundlage dieser Kurzübersicht sind die Kapitel zur Geschichte des Konzentrationslagers auf der Website des Mauthausen-Memorials,
weiters Michel Fabréguet, Entwicklung und Veränderung der Funktionen des Konzentrationslagers Mauthausen 1938–1945. In: Ulrich Herbert, Karin Orth, Christoph Dieckmann (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Bd. I (Frankfurt am Main 2002), S. 193–215, oder Alexander Prenninger (Vortrag), Zur Geschichte des KZ Mauthausen und des KZ Gusen (Salzburg 2007)

[5] Grundlage dieser Kurzübersicht sind die Kapitel zur Errichtung des Konzentrationslagers Gusen auf der Website des Gusen-Memorials,
und Gedenkdienstkomitee Gusen, KZ Gusen I (Langenstein),
sowie Gedenkdienstkomitee Gusen, KL Gusen II (St. Georgen/Gusen)
und Gedenkdienstkomitee Gusen, KZ Gusen III (Lungitz)

[6] Gusen Memorial – Das Konzentrationslager, Zwangsarbeit, Kapitel „Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH“

[7] Rudolf Haunschmied, Zum Gedenken 1938/1945. In: Marktgemeinde St. Georgen an der Gusen (Hg.), 300 Jahre erweitertes Marktrecht St. Georgen an der Gusen (St. Georgen a. d. Gusen 1989), S. 80–82. 
Rudolf A. Haunschmied, Jan-Ruth Mills, Siegi Witzany-Durda, St. Georgen – Gusen – Mauthausen. Concentration Camp Mauthausen Reconsidered (St. Georgen an der Gusen 2007), S. 82–90 sowie
Gedenkdienstkomitee Gusen, Gusen Information Map.

[8] Gusen Memorial – Das Konzentrationslager, Häftlinge, Kapitel „Sowjetische Kriegsgefangene“.

[9] Andere Schreibweisen: Yakow, Yakov, Jakov, Jakob, Kolganov
In kyrillischer Schreibweise: Яков Колганов

[10] Alte deutsche Schreibweise: Kauen

[11] Liste der Zugänge vom 12. April 1944, Konzentrationslager Mauthausen Schutzhaftlager, 13. April 1944,
Sammlungen der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Sign. MM/Y50
sowie Häftlingszugangsbuch der politischen Abteilung,
Sammlungen der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Sign. MM/Y36b

[12] Schreibstubenkarte aus dem KZ Mauthausen zu Jakow Kolganow, Mauthausen, 1.1.26.3/ 1542157/ ITS Digital Archive, Arolsen Archives

[13] Häftlings-Personal-Karte Jakow Kolganow, Mauthausen, 1.1.26.3/ 1542155/ ITS Digital Archive, Arolsen Archives

[14] Vermessung des Stollens durch Bernhard Mühleder/KZ-Gedenkstätte Mauthausen