Nimmt sich kein Blatt vor den Mund: Thilo Sarrazin.

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Man stelle sich eine Ehefrau vor, die den Gatten loswerden will. Nicht einfach so, auch nicht aufgrund einer akuten Verstimmung oder wegen eines plötzlichen Konflikts. Nein, weil sie sich seit Jahren vom Gemahl öffentlich diskreditiert sieht. Im Guten will der Mann nicht gehen. Also beschließt die Frau, sich eben selbst um die Scheidung samt Rauswurf zu kümmern – und ruft das zuständige Gericht an.

Ganz genau so ergeht es der SPD mit ihrem Mitglied Thilo Sarrazin. Seit nun elf Jahren betreibt sie die Trennung – wegen Unvereinbarkeit der politischen und gesellschaftlichen Ansichten. In parteipolitischen Kreisen sagt man: weil Sarrazins Äußerungen in Wort und Schrift unvereinbar seien mit dem Programm der deutschen Sozialdemokratie.

"Von Volkspartei zu Sekte"

Dabei ist die goldene Hochzeit schon in Sicht. 1973 trat der promovierte Volkswirt Sarrazin in die SPD ein. Und erst im Februar schrieb er in einem Gastbeitrag für die "Welt am Sonntag": "Die Grundwerte der SPD – Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität – fand ich überzeugend und finde das heute noch." Die Partei aber sieht er "in Gefahr, von einer Volkspartei zu einer Sekte abzusteigen, die sich von der Wirklichkeit abwendet und an Gesinnungen klammert".

Die so Attackierte straft ihn wegen derlei mit Schweigen. Nicht dulden aber möchte sie, dass Sarrazin sich einerseits Sozialdemokrat nennen und andererseits rassistische Klischees über Migranten im Allgemeinen und Muslime im Speziellen in Wort und Schrift bedienen will. Eine für ihn erfolgreiche Strategie, mit der er einiges Geld verdient.

Das Zerwürfnis begann 2009, als der Ex-Finanzsenator von Berlin, der inzwischen Vorstand der Deutschen Bundesbank war, in einem Interview mit der Kulturzeitschrift "Lettre International" sagte, der muslimische Zuwanderer sei ein Mensch, der "vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert". Die Äußerung zog das erste Parteiordnungsverfahren nach sich. In dem urteilte die Berliner Landesschiedskommission, die SPD müsse "solche provokanten Äußerungen aushalten" – betonte aber zugleich, sie erteile Sarrazin damit "keinen Freifahrtschein".

Der schrieb dann ein Buch, "Deutschland schafft sich ab", das eine angeblich fehlende Integrationsbereitschaft von Muslimen thematisierte. Das Werk war sehr aufreizend und sehr erfolgreich – wobei Letzteres mit Ersterem wohl direkt zusammenhing. Die Bundesbank nötigte Sarrazin wegen seiner Thesen zum Abschied, und der SPD reichte es auch: Der damalige Vorsitzende Sigmar Gabriel betraute die damalige Generalsekretärin Andrea Nahles mit einem Parteiausschlussverfahren.

Die beiden sind inzwischen SPD-Geschichte. Sarrazin aber ist immer noch da. Er überstand das Ausschlussverfahren 2011, weil er zusicherte, künftig die Grundsätze der Partei zu beachten.

Ein paar Jahre hörte man nichts von ihm, dann veröffentlichte er Ende 2018 das nächste Buch: "Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht".

Sarrazins Ortsverein im vornehmen Berliner Westend reichte es nun endgültig. Er beantragte Parteiausschluss – den das zuständige Kreisschiedsgericht im Juli 2019 beschloss; Sarrazins Widerspruch wies die Landesschiedskommission im Jänner dieses Jahres zurück. Sie befand, Genosse Sarrazin habe "erheblich, beharrlich und wiederholt" die Parteigrundsätze verletzt, der SPD damit "schweren Schaden zugefügt" und müsse diese daher verlassen.

Davor war Sarrazin im Europawahlkampf bei der FPÖ aufgetreten, danach sah er die SPD-Spitze "teilweise in den Händen fundamental orientierter Muslime". Und immer wieder kündigte er an, sich gegen den Ausschluss durch alle Instanzen zu wehren – bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht.

Nicht deswegen, ganz grundsätzlich hadern etliche Sozialdemokraten mit dem Ausschlussverfahren. Sie hätten Ignorieren für die klügere Strategie gehalten. Das hätte Sarrazin die Rolle verwehrt, die er mit Lust ausfüllt: des Dissidenten in der SPD, der allein noch ausspricht, was die Partei verbietet. Und es hätte der SPD Zweifel an der innerparteilichen Meinungsfreiheit erspart.

Kein Friede in Sicht

Bei der SPD aber ist Sarrazin jetzt endgültig am Ende. Die Bundesschiedskommission hat am Freitagabend nach sechsstündiger Sitzung seinen Widerspruch gegen den Ausschluss zurückgewiesen. "Ein wichtiger, ein guter Tag" für die SPD, findet Generalsekretär Lars Klingbeil; außer ihm möchte niemand mehr über Sarrazin reden. Der will ab jetzt, was er für sein Recht hält, vor ordentlichen Gerichten suchen. Der Rosenkrieg wird noch dauern. (Cornelie Barthelme aus Berlin, 3.8.2020)