Brennpunkte der Covid-19-Pandemie sind die brasilianischen Urwaldregionen. Die medizinische Versorgung ist dort problematisch.

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Walkyria Marques läuft von Tür zu Tür. In der Hand hält sie kleine gelbe Zettel mit Datum und Uhrzeit. Drei Monate hat die ehrenamtliche Gemeindemitarbeiterin dafür gekämpft, dass staatliche Gesundheitsmitarbeiter auch nach Vila Jacuí kommen – in den äußersten Osten der Millionenmetropole São Paulo. "In der Peripherie sind die Corona-Infektionen am höchsten, aber kaum einer wird getestet", sagt Marques.

Die Menschen hier leben von der Hand in den Mund. Schützen können sie sich kaum. Doch Marques kämpft nicht nur mit den Behörden, sondern auch mit den eigenen oft misstrauischen Nachbarn gegen Vorurteile, Aberglauben und Desinformation. Corona bedeutet für viele den Verlust des Jobs und soziales Stigma. Wer Symptome hat, versteckt sich lieber.

Selbsthilfe via WhatsApp

Per WhatsApp hat Marques Informationen der Gesundheitsbehörden geteilt und Fake-News entlarvt, hat sich um Nachbarn gekümmert. Jetzt fahren die weißen Vans des Gesundheitsamtes vor. In Schutzanzügen bauen die Mitarbeiter Teststationen auf dem verwaisten Schulhofgelände auf. Und die Bewohner von Vila Jacuí sind da, halten die gelben Zettel in den Händen und warten geduldig. Es ist das erste Mal, dass sich ein Gesundheitsteam in die Peripherie wagt. Marques kämpft mit den Tränen.

Am 25. Februar meldete Brasilien seine erste Covid-19-Infektion. Ein Bewohner aus São Paulo hatte das Virus aus Italien mitgebracht. Seitdem hat sich das Virus von den Wohnvierteln der Mittelklasse in die Peripherie und weiter ins Landesinnere ausgebreitet. Auch in dieser Krise sind die Armen – wie so oft – auf sich allein gestellt. Die Stadtverwaltung schätzt, dass elf Prozent der Einwohner von São Paulo infiziert sind oder es waren. Später wird Gemeindemitarbeiterin Marques eine Nachricht schicken, dass in Vila Jacuí 30 Prozent aller 3500 Tests positiv auf Covid-19 ausfielen.

Soziale Ungleichheit ist tödlich

"In Europa ist der entscheidende Faktor für den Tod der Infizierten das Alter – in Brasilien die Adresse", sagt Jorge Abrahão vom brasilianischen Institut für nachhaltige Stadtentwicklung. Die Pandemie zeige überdeutlich, dass die soziale Ungleichheit tödlich ist. Aktuelle Studien belegen, dass die Armen in der Gesellschaft einem doppelt so hohen Risiko einer Corona-Infektion ausgesetzt sind. Die Ureinwohner haben ein fünfmal höheres Risiko als wohlhabende Weiße.

Allein im armen Nordosten Brasiliens ist die Zahl der Corona-Toten im Vergleich zur Bevölkerung 13-mal höher als im entwickelten Süden. Landesweit verzeichnet Brasilien seit mehr als einem Monat täglich die weltweit höchste Sterberate. Inzwischen sind schon mehr als 91.000 Menschen an den Folgen der Virusinfektion gestorben, mehr als 2,6 Millionen Menschen sind infiziert. Und dabei dürfte die Dunkelziffer noch um ein Vielfaches höher sein.

Überforderte Mediziner

Besonders in den entlegenen Dörfern und der abgelegenen Amazonas-Region breitet sich das Virus ungebremst aus. Krankenhäuser sind weit entfernt, wenn überhaupt gibt es nur rudimentäre Gesundheitsstützpunkte, die allerdings über keine Testkapazität verfügen. Nur in der Amazonas-Regionalhauptstadt Manaus stehen Intensivbetten – die einzigen für mehr als 60 Gemeinden. "Es ist, als ob wir in einen Krieg ohne Waffen ziehen", sagt die Ärztin Wladia de Albuquerque aus Manaus. "Wir haben keine Betten mehr, nicht einmal Stühle."

Die Situation in der Amazonas-Region war von Beginn an prekär. Mit überfüllten Schiffen, in Hängematten dicht an dicht gepfercht, bringen die Angehörigen die Kranken in die Spitäler. Gleichzeitig hat sich das Virus über den Fluss, Lebensader für mehr als 30 Millionen Menschen, in die entlegensten Regionen ausgebreitet. Doch auch hier sind Lockdowns nicht mehr aufrechtzuerhalten, dafür ist der soziale und wirtschaftliche Druck zu stark. Das medizinische Personal gerät an seine Grenzen. Pro Tag sterben nach Schätzungen des Branchenverbandes Cofen etwa zwei Krankenschwestern, Pfleger oder Ärzte nach einer Corona-Infektion – insgesamt waren es schon 318 Menschen.

Mehr als 30.000 Gesundheitsmitarbeiter sind mit dem Virus infiziert. "Es ist tragisch, ein großer Teil der Mitarbeiter könnte noch leben, wenn sie adäquate Schutzkleidung gehabt hätten", sagt Cofen-Sprecher Walkirio Almeida. Er beklagt die fehlende Unterstützung aus der Politik. Nicht nur Präsident Jair Bolsonaro zieht gegen die Quarantänemaßnahmen zu Felde und legte sein Veto gegen eine landesweite Maskenpflicht ein.

Illegale Geschäfte

Regelmäßig erscheinen Berichte über Korruption, verschwundene neue Beatmungsgeräte und Schutzkleidung, die bezahlt ist, aber nie in den Krankenhäusern ankommt.

Als die Hilferufe der Spitäler immer lauter wurden, ermunterte Bolsonaro seine Anhänger, in die Krankenhäuser einzudringen und zu dokumentieren, dass genug Intensivbetten zur Verfügung stünden. "Das war ein völlig unangebrachter Aufruf, der nur soziale Unruhe gestiftet hat", ärgert sich Almeida. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, 4.8.2020)