In der Debatte über ein degressives Arbeitslosengeld werde nicht auf Details geachtet, kritisiert Oliver Picek, der Chefökonom des Thinktanks Momentum-Institut, im Gastkommentar. Eine andere Position vertritt Agenda-Austria-Ökonomin Monika Köppl-Turyna.

Unter dem Schlagwort "Degressives Arbeitslosengeld" will eine wirtschaftsliberale Allianz aus ÖVP, Neos, Industriellenvereinigung und Agenda Austria die Leistungen für über längere Zeit arbeitslos Gemeldete senken. Sie argumentieren das mit zu hohen Leistungen für Österreichs Langzeitarbeitslose im internationalen Vergleich. Eine Grafik der OECD zum Arbeitslosengeld, die aktuell in mehreren österreichischen Tageszeitungen herumgeistert, wird als Beweis geführt. Sie bescheinigt Österreich zwar ein im internationalen Vergleich äußerst niedriges Arbeitslosengeld zu Beginn. Aber bei mehrjähriger Dauer der Arbeitslosigkeit senke Österreich seine Leistungen vergleichsweise weniger ab als andere Länder. Dieses System solle Österreich auch einführen, damit die "inaktiven Arbeitslosen" endlich die notwendigen Arbeitsanreize bekommen – wie international üblich. Doch die Darstellung ist irreführend.

Bekommen Österreichs Arbeitslose im internationalen Vergleich wirklich viel? ÖVP und Neos beantworten diese Frage mit Ja.
Foto: APA / Georg Hochmuth

Ohne Auffangnetze

Die Großzügigkeit Österreichs löst sich in Luft auf, sobald man die Zahlen genauer betrachtet. Das zeigt beispielsweise unser Nachbarland Deutschland. Dort müssen Arbeitslose nach einiger Zeit vermeintlich mit nur einem Fünftel ihres letzten Nettogehalts auskommen. Das ginge sich zum Leben hinten und vorn nie aus: Essen könnte man damit noch, aber eine Mietwohnung wäre nicht mehr leistbar. Der deutsche Niedriglohnsektor ist ein Negativbeispiel und Hartz IV das Gegenteil von Zuckerschlecken. Aber auch Deutschland lässt seine Arbeitslosen nicht komplett zugrunde gehen. Zwar stimmt es: Das reine Arbeitslosengeld II liegt nur bei 22 Prozent des Letztgehalts nach fünf Jahren Arbeitslosigkeit. Inkludiert man aber die Kosten der Unterkunft und Heizung (ein normaler Teil von Hartz IV), liegt der Einkommensersatz nach fünf Jahren netto bei 47 Prozent – mehr als doppelt so hoch.

Damit kommen wir schon zum Grundproblem. Der getroffene internationale Vergleich enthält keine anderen Auffangnetze wie Sozialhilfe, Mindestsicherung, Wohnbeihilfen. In Österreich bleiben die meisten Langzeitarbeitslosen mit der Notstandshilfe im Arbeitslosenversicherungssystem selbst. In vielen Staaten fallen sie stattdessen in die Sozialhilfe. Nur das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe darzustellen, führt daher zu einer viel zu positiven Einschätzung der "Großzügigkeit" Österreichs. Tatsächlich schenkt das Land seinen Arbeitslosen fast nichts, indem es gleich einmal auf 55 bis 60 Prozent des letzten Nettoeinkommens kürzt. Und in Wahrheit unterstützen natürlich auch andere Staaten ihre Arbeitslosen über ihr Sozialsystem mit dem notwendigen Existenzminimum.

Absurd knausrig

Die zweite Kuriosität dieser regelmäßigen internationalen Vergleiche: Seit wann vergleicht sich ein wohlhabender, ausgebauter Sozialstaat wie Österreich mit Polen, Tschechien oder Kroatien, die nicht einmal annähernd unser Niveau an sozialer Sicherheit oder Wirtschaftsleistung erreicht haben? Gleiches gilt für Südeuropa. Nord- und Westeuropa ist die relevante Vergleichsgruppe, weil das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ähnlich hoch ist und ein ausgebauter Sozialstaat vorliegt.

Ein besserer Vergleich einer arbeitslosen Person enthält daher andere Sozialleistungen und Wohnkostenzuschüsse sowie eine relevante Gruppe an ähnlichen Ländern, welche die OECD ebenfalls bereitstellt. Insgesamt bekommen Arbeitslose in Österreich mit 55 bis 60 Prozent des letzten Einkommens sehr wenig – vor allem bei kurzer Dauer der Arbeitslosigkeit. Nur Irland zahlt in Nord- und Westeuropa weniger, aber die haben ihr Arbeitslosengeld in der Pandemie außertourlich aufgestockt. Fast alle zahlen wesentlich mehr an kürzer arbeitslose Menschen. Belgien, das gerne als Vorbild für ein abfallendes Arbeitslosengeld gilt, sogar an die 90 Prozent. Hier bleibt Österreich absurd knausrig für einen ausgebauten Sozialstaat.

Breites Mittelfeld

Anders ist vor allem, dass uns einige Länder auch bei den Langzeitarbeitslosen überholen: Die Niederlande, Dänemark, Schweden, Finnland und Luxemburg lassen Langzeitarbeitslosen einen (teilweise viel) höheren Anteil an deren Letztgehalt als Österreich. Schweden zahlt gleich viel wie Österreich, Schweiz, Belgien und Irland geringfügig weniger. Nur Deutschland und Frankreich zahlen wirklich weniger. Aber die Spitzenposition in der Großzügigkeit bei Langzeitarbeitslosen ist gänzlich verschwunden und einer durchschnittlichen Position im Mittelfeld gewichen.

Dass das Arbeitslosengeld in Österreich nicht besonders hoch ist, zeigen auch die ausgezahlten Beträge. Die Hälfte der Menschen in Notstandshilfe bekommt weniger als 871,44 Euro netto im Monat – zwölf Mal im Jahr, nicht 14 Mal.

Winston Churchill ist angeblich der Urheber des Sprichworts: "Ich traue keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe." Ganz so schlimm ist es nicht mit der Statistik, meist ist es viel banaler. Man muss sehr auf Details achten, um auch wirklich darzustellen, worum es geht. Gerade in der Debatte über das absinkende Arbeitslosengeld trifft das umso mehr zu. Es gilt, die richtigen Fakten auf den Tisch zu legen, bevor die Politik über eine Reform des Arbeitslosengeldes berät. (Oliver Picek, 4.8.2020)