Der Nachweis des Higgs-Teilchens, der im Juli 2012 am Europäischen Kernforschungszentrum Cern in Genf bekanntgegeben worden ist, war einer der großen wissenschaftlichen Durchbrüche der vergangenen Jahre. Bereits in den 1960er-Jahren entwickelten der britische Physiker Peter Higgs und unabhängig von ihm andere Forscher einen physikalischen Mechanismus, durch den Elementarteilchen ihre Masse erhalten. Für das damit in Verbindung stehende Teilchen hat sich der Name Higgs-Teilchen oder Higgs-Boson eingebürgert. Als dieses Jahrzehnte später am Large Hadron Collider (LHC), dem größten Beschleunigerring der Welt, tatsächlich nachgewiesen werden konnte, dauerte es nicht lange, bis Higgs gemeinsam mit seinem Kollegen François Englert eine Einladung nach Stockholm in der Tasche hatte: Die beiden erhielten den Physik-Nobelpreis 2013.

Inzwischen ist die Detektion und Analyse von Higgs-Teilchen am Cern zur Routine geworden. Dennoch gibt das Teilchen noch einige Rätsel auf. Seine Interaktion mit anderen Elementarteilchen ist sehr speziell. Mit dem Higgs-Teilchen lässt sich zwar erklären, was den anderen Elementarteilchen Masse verleiht. Wie seine eigene Masse zustande kommt, bleibt aber ungeklärt. Unklar ist bislang auch, warum es so enorme Unterschiede zwischen den Massen verschiedener Elementarteilchen gibt: Das schwerste unter ihnen, das Top-Quark, ist viele hunderttausend Mal schwerer als das Leichtgewicht Elektron. Auch bleibt rätselhaft, warum sich die Elementarteilchen ausgerechnet in drei Gewichtsklassen einteilen lassen, die Generationen genannt werden. Für die Cern-Generaldirektorin Fabiola Gianotti könnte das Higgs-Teilchen aufgrund seiner Einmaligkeit "das Tor zu einer neuen Physik und zu großen Entdeckungen sein".

Mit einem Umfang von rund 27 Kilometern ist der Large Hadron Collider (LHC) der längste und leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger der Welt.
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Seltener Higgs-Zerfall detektiert

Neuen Messungen und Erkenntnisse zum Higgs-Teilchen kommt daher immer besonders großes Interesse zu, und genau das ist nun auch bei der größten Teilchenphysikkonferenz dieses Jahres passiert, bei der International Conference on High Energy Physics in Prag. Die Forscher des CMS-Experiments und des Atlas-Experiments, jener beiden großen Experimente am LHC, denen 2012 der Higgs-Nachweis gelungen ist, berichteten von der Beobachtung eines seltenen Zerfalls des Higgs-Teilchens. Dem CMS-Experiment ist ein noch deutlicherer Nachweis dieses Prozesses gelungen, daran beteiligt sind auch zahlreiche österreichische Forscher und Forscherinnen, insbesondere das Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Die Forscher sprechen vom "nächsten experimentellen Meilenstein in der Erforschung des Higgs-Bosons".

Den Physikern ist es erstmals gelungen, den Zerfall eines Higgs-Teilchens in zwei Myonen zu messen. Es handelt sich dabei um ein extrem seltenes Phänomen, denn nur etwa eines von 5.000 Higgs-Teilchen zerfällt in Myonen. Was den Nachweis dieses Zerfallsprozesses zusätzlich erschwert, ist die Tatsache, dass gleichzeitig mit dem Higgs-Zerfall tausende andere Myonenpaare durch andere Prozesse erzeugt werden. Diese Hintergrundereignisse erschweren natürlich die Identifizierung der Higgs-Zerfälle.

Der Detektor Compact Muon Solenoid (CMS) ist einer der beiden großen Experimente des Beschleunigerrings LHC am Kernforschungszentrum Cern.
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Österreichische Beiträge

Mit hoher Präzision werden mittels eines Silizium-basierten Detektors Energie, Impuls und Winkel der Myonen gemessen, um jene aus dem Higgs-Zerfall sicherzustellen. Zusätzlich verbesserten die Forscher mittels maschineller Lernalgorithmen die Empfindlichkeit ihrer Analysen. Das Institut für Hochenergiephysik der ÖAW leistete wesentliche Beiträge zum Bau des Silizium-Detektors und entwickelte und betreute zentrale Komponenten des Triggersystems, das etwa Kollisionsereignisse wie den Higgsbosonenzerfall zu Myonen in Echtzeit auswählt und für die Analyse bereitstellt.

Myonen gehören zur zweiten Generation im Standardmodell der Teilchenphysik, sie liegen in der mittleren Gewichtsklasse. Umso brisanter ist der nun geglückte Nachweis einer Wechselwirkung zwischen Higgs-Boson und Myon. Es ist das erste Mal, dass die Wechselwirkung des Higgs-Teilchens in dieser Massenskala getestet werden kann. "Unser Modell sagt voraus, wie sehr das Higgs-Teilchen mit anderen Elementarteilchen wechselwirkt", sagt Wolfgang Adam, Teilchenphysiker an der ÖAW und Physik-Koordinator des CMS-Experiments, zum STANDARD. "Bisher haben wir nur die Wechselwirkung mit schweren Teilchen nachgewiesen, mit denen das Higgs-Teilchen am meisten 'redet'. Aber um das Bild zu vervollständigen, ist es auch notwendig zu überprüfen, ob das auch für die leichteren Teilchen stimmt." Die Wechselwirkung mit leichteren Teilchen zu messen ist schwieriger, da solche Zerfälle seltener stattfinden und es daher mehr Daten und bessere Techniken braucht.

"Tür einen Spalt geöffnet"

"Wir haben die Tür jetzt gerade eine Spalt geöffnet", sagt Adam. "Im Moment messen wir mit etwa 30 Prozent Genauigkeit", doch in den nächsten Jahren soll mit weiteren Messungen eine höhere Präzision erreicht werden. "Das Modell nur zu bestätigen ist natürlich weniger interessant, aber es gibt Szenarien, in denen es mehr Higgs-Bosonen gibt oder der Mechanismus etwas anders aussieht. Und wenn dann die Zerfallsraten anders wären, wäre das ein Hinweis, dass es etwas gibt, das wir noch nicht kennen."

Größere Datensätze und genauere Messungen derartiger Prozesse sind beim nächsten Lauf des Teilchenbeschleunigers und nach dem Upgrade zum "High Luminosity LHC" zu erwarten. Dadurch erhoffen sich die Forscher weitere Anhaltspunkte, um dem Rätsel der Teilchenmasse und anderen Besonderheiten des Higgs-Teilchens auf die Spur zu kommen. (Tanja Traxler, 4.8.2020)