Shalini Randeria: "Wenn es eine starke globale Öffentlichkeit gegen den Schutz geistigen Eigentums für Medikamente in einer solchen Krisensituation gibt, lässt sich etwas bewegen."

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Sie ist das, was man gemeinhin Weltbürgerin nennt: Shalini Randeria, geboren in den USA und aufgewachsen in Indien, hat Kenntnisse in sieben Sprachen und ist an internationalen Forschungseinrichtungen tätig – seit 2015 als Rektorin am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Auch ihre Schwerpunkte im Bereich der Anthropologie sind global angelegt: von Recht über Politik (wie Privatisierung von Gemeingut) zu Globalisierung und Entwicklung.

STANDARD: Sie plädieren dafür, Sars-CoV-2-Impfstoffe als globales öffentliches Gut zu handeln und keine Patente auszustellen. Warum?

Shalini Randeria: Die Erforschung und Entwicklung von Impfstoffen, die für Pharmakonzerne stets Risikoinvestitionen darstellen, werden auf der ganzen Welt mit öffentlichen Mitteln und von philanthropischen Privatstiftungen unterstützt, so auch beim Covid-19-Impfstoff. Es ist daher nicht einzusehen, warum er zum Privateigentum einer Firma werden soll. Als globales Gemeingut sollten Impfstoffe meiner Ansicht nach für alle Menschen kostenlos zugänglich sein. Auch auf die Impfung gegen Kinderlähmung gibt es kein Patent. Wie ihr Erfinder Jonas Salk sagte, gehöre sie der Menschheit und dürfe wie die Sonne nicht patentiert werden.

STANDARD: UN-Generalsekretär António Guterres sprach in diesem Zusammenhang von einem "Volksimpfstoff". Wie realistisch ist es, dass es einen solchen gibt?

Randeria: Was mich optimistisch stimmt, ist eine Äußerung des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping auf der Weltgesundheitsversammlung: Er teilte die Position einiger EU-Staaten, dass der Impfstoff gegen Covid-19 ein globales öffentliches Gut sein sollte. Es scheint hier einen Schulterschluss zu geben, der vielsprechend ist, stammt doch die Hälfte der bisher am weitesten entwickelten Impfstoffe aus China.

STANDARD: Gibt es auch Grund für Pessimismus?

Randeria: Die USA haben sich unter Trump und dessen "American First"-Haltung just zum Höhepunkt der Pandemie aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedet. Doch die US-Regierung würde selbst unter einem demokratischen Präsidenten der Idee eines Impfstoffs als öffentliches Gut kaum zustimmen. Sie trat bisher immer vehement für den Schutz geistigen Eigentums ein – auch bei globalen Gesundheitskrisen. Dies hat sich bei der US-Politik zugunsten amerikanischer Pharmafirma gezeigt, die HIV/Aids-Medikamente herstellen. Von Filmproduzenten in Hollywood bis hin zu großen agrochemischen Konzernen wie Monsanto betreiben US-Konzerne mit enormen finanziellen Ressourcen erfolgreiche Lobbyarbeit für den Schutz geistigen Eigentums bei der US-Regierung. Sie üben daher großen politischen Einfluss auf ihre Regierung aus, die sich bisher stets zu ihren Gunsten stark gemacht hat.

STANDARD: Wie war die Situation bei HIV- und Aids-Präparaten?

Randeria: HIV/Aids-Medikamente wurden von US-amerikanischen, aber auch europäischen Pharmakonzernen zu derart hohen Preisen auf den Weltmarkt gebracht, dass sie für ärmere Patienten und Patientinnen weltweit unerschwinglich waren und das Gesundheitsbudget der Staaten des Globalen Südens erheblich belasteten. Gegen die in Indien und Brasilien hergestellten, wesentlich preiswerteren Generika gingen westliche Pharmakonzerne sowie die US-Regierung damals rigoros vor. Letztendlich gelang es Aktivisten und Aktivistinnen aus Südafrika gemeinsam mit der Zivilgesellschaft, Druck aufzubauen, dem sich die Pharmaindustrie beugen musste, infolge musste sie Medikamente zu faireren Preisen zugänglich machen. Wenn es eine starke globale Öffentlichkeit gegen den Schutz geistigen Eigentums für Medikamente in einer solchen Krisensituation gibt, lässt sich etwas bewegen.

STANDARD: Sehen Sie Kooperationen von Regierungen mit Pharmaunternehmen kritisch?

Randeria: Diese sind grundsätzlich zu begrüßen. Ich bin gegen eine pauschale Verurteilung großer Pharmakonzerne – eine Strategie, die von vehementen Impfgegnern betrieben wird, um Gerüchte und Verschwörungstheorien in die Welt zu setzen. Wir sind auf öffentlich-private Partnerschaften angewiesen, da pharmazeutische Unternehmen jene Kapazitäten haben, die für die Forschung und Entwicklung, aber auch Produktion wie Verteilung von Impfstoffen und anderen medizinischen Gütern notwendig sind. Problematisch ist, wenn die Profite aus diesen allein den Privatunternehmen zukommen, obwohl sie hohe öffentliche Subventionen für deren Entwicklung erhalten haben. Schließen die USA und mehrere EU-Staaten für Impfstoffe, die noch nicht einmal alle Testphasen durchlaufen haben, Kaufverträge mit Pharmafirmen zu Fixpreisen ab, bleiben einkommensschwache Länder notgedrungen außen vor.

Genügend Impfstoff nur für jene Länder, die es sich leisten können? Ein Mittel dagegen wäre die freiwillige Weitergabe von Wissen per "Patent-Pooling".
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STANDARD: Wer es sich leisten kann, will primär die eigene Bevölkerung schützen.

Randeria: Nationalstaaten haben verständlicherweise ein Interesse daran, ihre jeweils eigene Bevölkerung zu schützen. Aber angesichts der großen Machtunterschiede in puncto Wirtschaftsstärke stellt sich die Frage nach einem gerechten weltweiten Zugang zu fairen Preisen.

STANDARD: In einem Interview sagten Sie kürzlich: "Das Virus verstärkt das nationale Einigeln und Ausschließen, statt zu grenzüberschreitender Solidarität zu führen."

Randeria: Die raschen Grenzschließungen im März waren notwendig, um der Verbreitung des Coronavirus Einhalt zu gebieten. Aber dadurch wurden auch notwendige Exporte von medizinischen Gütern unterbunden, was vielerorts zu besorgniserregender Knappheit geführt hat. Zudem verschlechterte sich durch die Grenzschließungen die Lage an den EU-Außengrenzen. In den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln herrschen ohnehin verheerende hygienische Zustände ohne fließendes Wasser und medizinische Versorgung. Ausreichend Raum zum Distanzhalten oder Isolieren ist dort kaum gegeben. Die Grenzschließungen haben zudem erhebliche Engpässe im Pflegebereich und der Landwirtschaft in Österreich, Deutschland und der Schweiz verursacht, wo überdurchschnittlich viele Migranten und Migrantinnen in diesen Bereichen tätig sind. Aber auch in New York, wo über 300.000 undokumentierte Migrantinnen und Migranten unter prekären Bedingungen leben und arbeiten. Sie erhielten keinerlei staatliche Unterstützung, nachdem sie durch den Lockdown arbeitslos geworden sind.

STANDARD: Wie kann die medizinische Versorgung auch in Ländern des Globalen Südens gewährleistet werden?

Randeria: Auch ohne Covid-19 stellt die unzureichende medizinische Versorgung ein strukturelles Problem in den meisten Ländern des Globalen Südens dar. Aber auch in England und Italien hatte die Sparpolitik der letzten 30 Jahre verheerende Auswirkungen auf den staatlichen Gesundheitssektor. Im Falle hochverschuldeter Staaten Afrikas und Lateinamerikas wurde seit 30 Jahren die Vergabe von Krediten durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) an drastische Einsparungen im Gesundheitswesen geknüpft. So kam es zu einem systematischen Abbau genau jener medizinischen Infrastruktur, die jetzt dringend vonnöten wäre.

STANDARD: Wie kommen wir zu einer Verteilungsgerechtigkeit?

Randeria: Ohne einen Schuldenschnitt beziehungsweise eine Verschiebung der Schuldentilgung wird es einkommensschwachen Ländern unmöglich sein, in der jetzigen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Krise in den Gesundheitsbereich zu investieren. Der Problematik der Pandemieprofite durch Patente auf mögliche Covid-19-Impfstoffe und -Medikamente könnte aber durch verschiedene Initiativen der WHO begegnet werden.

STANDARD: Wie sehen diese Initiativen aus?

Randeria: Industriestaaten und Pharmakonzerne können sich an neuen Solidaritätsmechanismen in Form von "Patent-Pooling" beteiligen. Eine dieser vielversprechenden Initiativen ist der Covid-19 Technology Access Pool (C-TAP) der WHO, der die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Daten aus mehr als 35 Ländern bündeln und die Erforschung wie Bekämpfung des Virus kollektiv vorantreiben soll. Durch die freiwillige Weitergabe von Wissen, geistigem Eigentum und Technologiedaten sollen Covid-19-Behandlungen sowie Impfstoffe als "globale öffentliche Güter" weltweit frei zugänglich sein.

STANDARD: Was versteht man unter Patent-Pooling?

Randeria: Der von der WHO vorgeschlagene Mechanismus des Patent-Poolings würde die Transparenz für alle Beteiligten – Staaten wie Firmen – erhöhen. Und somit nicht nur zur Senkung der Transaktionskosten für Firmen und zur Beschleunigung des Innovations- und Produktionsprozesses beitragen, sondern auch für Verteilungsgerechtigkeit sorgen, indem es Firmen die Möglichkeit bietet, ihre Patente dort aufzunehmen lassen. Bereits bei der Sicherung der geistigen Eigentumsrechte auf HIV-Medikamente hat sich ein solcher Mechanismus als wirksam erwiesen: Einige Pharmakonzerne haben sich für die Aufgabe ihrer Patentrechte in denjenigen Ländern entschieden, in denen keine großen Gewinne zu erwarten waren, und behielten Patentrechte lediglich in Europa oder Nordamerika.

STANDARD: Was halten Sie von einer Impfpflicht, zumindest für bestimmte Gruppen? Und hätte das Auswirkungen auf die Problematik der Verteilungsungerechtigkeit?

Randeria: Die Frage der Impfpflicht ist eine komplexe und bedarf einer Abkopplung vom Problem der weltweiten Verteilungsgerechtigkeit. Eine Impfpflicht kann entweder direkt sein oder indirekt wie in den USA, wo der Nachweis bestimmter Impfungen eine Voraussetzung für die Aufnahme in einen Kindergarten, eine Schule oder Universität ist. In vielen Ländern besteht die Impfpflicht aber nur für medizinisches Personal. In Italien etwa gehört die Masernimpfung erst seit 2019 zur Pflicht. Die Impfbereitschaft ist stets hoch zum Höhepunkt einer Krankheit und nimmt ab, sobald eine Erkrankung weniger virulent wird oder Nebenwirkungen bekannt werden. Die allgemeine Impfskepsis in Europa steigt zurzeit, und viele sind besorgt, dass im internationalen Wettrennen der Pharmafirmen ein unzureichend getesteter Impfstoff gegen Covid-19 auf den Markt kommen könnte. Bei der Akzeptanz von Impfungen spielt die Bildung eine wichtige Rolle – aber auch das Vorhandensein bestimmter Sprachbarrieren.

STANDARD: Was wäre eine Lösung?

Randeria: Statt von einer "Pflicht" zu sprechen, die mit Zwang assoziiert wird, wäre es hilfreicher, auf die Notwendigkeit von Eigenverantwortung und Selbstschutz hinzuweisen. Zudem wissen wir, dass die Bereitstellung einer Impfung in Europa meist als staatliche Aufgabe angesehen wird. Demnach würde eine Gratisimpfung zu einer höheren gesellschaftlichen Akzeptanz beitragen.

STANDARD: Was können wir jetzt schon aus dieser Krise für die Zukunft lernen?

Randeria: Erstens: Unsere Gesundheit ist – wie im Idealfall auch der Impfstoff – ein globales öffentliches Gut. Sie darf daher nicht den Kräften des Marktes überlassen werden. Adäquate staatliche Investitionen in diesem Bereich sind unerlässlich. Die nächste Lektion: Die Einführung wie Beibehaltung eines Lebensstils, der mit nachhaltigem Umweltschutz und geringem Ressourcenverbrauch einhergeht. Gibt es eine Krise, wenden sich alle – einschließlich dem Privatsektor – an den Staat. Wie wir nun sehen, kann sich durch die Politik plötzlich sehr vieles sehr rasch bewegen. Es wäre wichtig, die Fehler von 2008 nicht zu wiederholen, als vorrangig Banken gerettet wurden. Staatliche Unterstützung für die Privatwirtschaft muss diesmal an den Schutz von Arbeitsplätzen und der Umwelt geknüpft werden. Drittens: Solidarität. Angesichts der beispiellosen humanitären, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Krisen, die miteinander verwoben sind und an nationale Grenzen stoßen, ist globale Solidarität – auch in unserem eigenen Interesse – unerlässlich. Welche dieser Lektionen wir nachhaltig lernen werden und welche politisch umsetzbar sind, hängt schlussendlich von uns als Bürgerinnen und Bürgern ab. (Julia Sica, 5.8.2020)