Eine junge Frau erhebt schwere Vorwürfe gegen einen ehemaligen Staatssekretär der britischen Regierung: Es geht um Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe.

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Nimmt die konservative britische Regierung Sexualverbrechen ernst? Die Frage geistert durch die politische Debatte, seit die Londoner Polizei am Wochenende einen Ex-Staatssekretär unter dem Verdacht festnahm, er habe eine junge Frau vergewaltigt. Dass der Beschuldigte anonym und Mitglied der Tory-Fraktion bleiben darf, findet die Betroffene "verheerend". Unterstützt wird sie von Opferorganisationen und Gewerkschaften: Der Umgang mit dem Fall stelle "ein weiteres Beispiel der Minimierung von Gewalt gegen Frauen" dar.

Sexualstraftaten im Parlament gerieten im Herbst 2017 im Gefolge der MeToo-Bewegung ins Visier der Öffentlichkeit. Damals mussten Verteidigungsminister Michael Fallon sowie Kabinettsminister Damian Green zurücktreten, weil sie mehrfach Frauen begrapscht hatten; zudem war auf Greens Dienstcomputer Pornografie entdeckt worden. Damals wurde auch der Abgeordnete Charles Elphicke aus der Tory-Fraktion ausgeschlossen, nachdem mehrere Frauen Anschuldigungen gegen ihn erhoben hatten. Vergangene Woche verurteilte ihn das Krongericht Southwark wegen sexueller Nötigung in drei Fällen.

"In den Fünfzigern"

Elphickes Fall wird nun im Parlament mit dem Vorgehen von Kabinettsmitglied ("chief whip") Mark Spencer in der neuen Causa kontrastiert. Zwar stehen in der Sache die Aussagen der Beteiligten gegeneinander; immerhin nahm die Kripo den Ex-Staatssekretär, dessen Alter mit "in den Fünfzigern" angegeben wird, am Samstag fest und verhörte ihn stundenlang. Dazu bedarf es nicht, wie meist auf dem Kontinent, der Aufhebung der Immunität. Diesmal geht es um den schwerwiegenden Tatbestand der Vergewaltigung, zudem einen sexuellen Übergriff und kontrollierendes Verhalten ("coercive control").

Eine Suspendierung der Fraktions- und damit auch Parteimitgliedschaft hätte automatisch die öffentliche Identifizierung des Beschuldigten zur Folge, die in dieser Phase eines Ermittlungsverfahrens vonseiten der Polizei nicht üblich ist. Er nehme die Anschuldigungen "sehr ernst", teilte Spencer mit und begründete sein Vorgehen mit dem Opferschutz: "Wir wollen die Frau auf keinen Fall identifizieren."

Ausgerechnet im Tory-nahen Telegraph nannte die Frau diese Erläuterung "Unsinn": Da sie für den Abgeordneten nicht tätig gewesen sei, lasse sich kein Zusammenhang mit ihr rekonstruieren. Ohnehin genießen Opfer im englischen Strafrecht dauerhaften Schutz ihrer Anonymität.

Die junge Frau "in den Zwanzigern" hatte sich bereits im April an Spencer gewandt. Gegenüber der Kripo sprach sie vergangene Woche von Delikten an drei Tatorten zwischen Juli 2019 und Jänner 2020.

Kritik an Kabinett

"Offenbar ist ihnen der Schutz des Abgeordneten und der Partei wichtiger als der Schutz der betroffenen Frauen" – dieser Satz der Beschuldigerin verursacht vielen Geschlechtsgenossinnen in der konservativen Fraktion Unwohlsein, weil sie einen Kern Wahrheit darin erkennen. Gegen Premierminister Boris Johnson besteht seit langem der Vorwurf, sein engster Kreis bestehe ausschließlich aus Männern. Von 22 Kabinettsmitgliedern sind sechs Frauen, lediglich Innenministerin Priti Patel verwaltet ein prominentes Ressort. In den Medien sind Tory-Frauen wenig präsent.

Eine Gruppe von Gewerkschaften und Opferorganisationen hat nun das Parlament dazu aufgefordert, sich in die Kontroverse einzuschalten und für die Suspendierung des betroffenen Abgeordneten zu sorgen: "Das Unterhaus sollte sich nicht von anderen Arbeitsstellen unterscheiden."

Unterstützt wird dies von der Labour-Opposition, deren Sprecherin Jessica Phillips das Aussitzen der Konservativen "schockierend" findet. Einen anderen Weg schlägt die prominente Tory-Abgeordnete Anne Milton vor, früher selbst Vize-Fraktionsgeschäftsführerin. Der Beschuldigte solle sich selbst aus der Fraktion zurückziehen: "Dies stellt kein Schuldbekenntnis dar." (Sebastian Borger aus London, 5.8.2020)