Chinesische Gesetze seien zwar "in ihrer Natur eher weit gefasst", dennoch sei der Streit um Tiktok ein Vehikel für den Konflikt zwischen den USA und China, so der Rechtswissenschafter Dennis-Kenji Kipker im Gastkommentar.

"Tiktok" und "Spionage" ist gegenwärtig ein Begriffspaar, das man in vielen Schlagzeilen lesen kann. Die indische Regierung hat die im Land sehr erfolgreiche Video-App seit Ende Juni zusammen mit einer Reihe anderer chinesischer Programme geblockt, und auch die US-Regierung droht damit, Tiktok abzuschalten, sollte bis Mitte September nicht ein Verkauf an den US-Tech-Riesen Microsoft erfolgt sein. Doch was ist dran an den Spionagevorwürfen – ist Tiktok wirklich eine Software, die den direkten Draht zur chinesischen Regierung hat und ahnungslose Bürger tagtäglich ausspäht?

Ein Tiktok-Videodreh auf einer Terrasse in Hyderabad im Februar. Vier Monate später wurde die App in Indien geblockt.
Foto: AFP / Noah Seelam

Wenn eines mit Sicherheit gesagt werden kann, dann, dass es keine zweifelsfrei sichere Antwort auf diese Frage gibt – zumindest nicht gegenwärtig. Es spricht aber einiges dafür, dass Tiktok keine Spionagesoftware ist, sondern nur ein Vehikel, auf dem bereits seit langem schwelende internationale Streitigkeiten zwischen Staaten ausgetragen werden. Denn schon bei einem Blick auf die Zielgruppe der App wird schnell klar: Es sind nicht die Regierungsangestellten oder die Politiker, die Tiktok auf ihren Smartphones installieren, sondern Jugendliche und Teenager, die die App als Medium persönlicher Entfaltung und nicht selten auch nonverbaler Kommunikation nutzen. Insoweit ist die aktuell um Tiktok geführte Debatte auch wenig mit den Kontroversen des vergangenen Jahres um den chinesischen Mobilfunkausrüster Huawei vergleichbar, denn Letzterer liefert Hardware, die tatsächlich auch in einem kritischen und sensiblen Kontext eingesetzt werden kann.

Weit gefasste Gesetze

Führt man sich demgegenüber die bisher recht kurze Historie des "Tiktok-Bans" vor Augen, so wird schnell deutlich, dass hier ganz andere Interessen hineinspielen: Noch im Juni entzündete sich der Grenzkonflikt zwischen Indien und China erneut, und einige Wochen später wurde Tiktok blockiert. Und um das schon seit Jahren spannungsgeladene Verhältnis zwischen den USA und China zu erkennen, braucht man kein politischer Insider zu sein. Im Gegenteil, ein möglicher Verkauf von Tiktok in den USA wäre sogar mehr als gewinnbringend, denn so könnte Microsoft als ein Konzern, dem das kaufkräftige jüngere Publikum in den letzten Jahren mehr und mehr abhandengekommen ist, ein bereits erfolgreich etabliertes Geschäftsmodell übernehmen, sofort nutzen und weiter ausbauen.

Bei allen Überlegungen bezüglich Tiktok darf der Blick auf chinesische Politik und Gesetzgebung aber nicht fehlen: Denn in der Tat ist es so, dass chinesische Gesetze in ihrer Natur eher weit gefasst sind und viele Vorschriften mehr den Eindruck befugnisoffener Generalklauseln erwecken. Für westliche Gesetzgeber mag dieses Verständnis von Recht auf den ersten Blick eher befremdlich wirken, versucht man doch, Vorschriften – und vor allem staatliche Eingriffsbefugnisse gegenüber Privaten– mehr und mehr detailliert auszugestalten. Dass die Gesetze in der Volksrepublik China somit viel Interpretationsspielraum für die behördliche Anwendung enthalten, macht sie im europäischen Vergleich natürlich auch irgendwo unberechenbarer. Und ja, theoretisch könnte sich der chinesische Staat, basierend auf der gegenwärtigen Gesetzeslage, den Zugriff auf viele verschiedene personenbezogene Daten im In- und Ausland verschaffen. Das ist jedoch eine Sachlage, die nicht speziell Tiktok betrifft. Nahezu jedes EU-Unternehmen, das geschäftlich in China tätig ist, wird davon berichten können.

Falsches Bild

Das bedeutet folglich auch, dass die momentan geführte Debatte um Tiktok nicht nur politisch aufgeheizt ist, sondern oftmals gar nicht den eigentlichen Kern des Problems wiedergibt – und das kann gefährlich sein, schafft sie doch ein falsches Bild von einem für sich genommen erst einmal völlig harmlosen Programm. Selbstredend ist es so, dass auch Tiktok personenbezogene Daten weitergibt, die bei der App-Nutzung anfallen. Das ist aber kein chinesisches Spionageproblem, sondern betrifft nahezu alle Apps und damit ebenso andere populäre Software wie Instagram, Facebook Messenger, Snapchat, oder Whatsapp. Auch die für ein Verbot von Tiktok angeführte Verbreitung von Fake-News und die illegale Meinungsbeeinflussung sind keine Themen, die vorrangig nur in einem Zuge mit dem Programm zu nennen sind – und erst recht haben sie erst einmal nicht besonders viel mit der im klassischen Sinne verstandenen Spionage gemein.

Wie soll es also weitergehen in Sachen Tiktok? Dass ein Verbot oder Bann der App in der EU kommen wird, ist verhältnismäßig unwahrscheinlich: Zum einen wird das Thema hier zumindest politisch noch nicht so intensiv diskutiert wie in anderen Staaten (ausgenommen Großbritannien), da die politischen Beziehungen zu China deutlich besser sind, und zum anderen fehlen weitestgehend die rechtlichen Grundlagen für ein konkretes Verbot. Und auch in den USA dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein, denn auch dort gibt die geltende Rechtslage nicht allzu viel Konkretes für das angekündigte dauerhafte und irreversible Verbot her – entgegen den öffentlichen Äußerungen von US-Präsident Donald Trump. (Dennis-Kenji Kipker, 6.8.2020)