Es herrscht Eiszeit zwischen Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin, die sich sonst auf dem Eis prächtig miteinander verstehen, wie hier bei einem Freundschaftsspiel in Sotschi im Februar.

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Minsk/Moskau– Die Idee von den 33 Recken stammt von Russlands Nationaldichter Alexander Puschkin. In seinem Märchenepos vom Zaren Saltan ließ er sie aus den Schwarzmeerwellen vor der imaginären Insel Bujan zum Schutz des dortigen Herrschers entsteigen.

Gewaltige Wellen schlugen auch die 33 in Belarus festgenommenen russischen "Recken", Söldner der dubiosen russischen Paramilitäreinheit Wagner. Denn nun tobt zwischen Moskau und Minsk ein Streit um die Deutungshoheit ihrer Anwesenheit. In Belarus ist ein Strafverfahren wegen Terrorverdachts gegen die Männer angelaufen.

Nur auf Durchreise

Die russische Führung hingegen weist alle solchen Verdächtigungen scharf zurück. Die Männer seien auf der Durchreise zu ihrem Einsatz, heißt es, wobei abwechselnd von Afrika und Südamerika als Endstation ihrer Reise die Rede ist. Heikel ist die Frage für den Kreml in jedem Fall, denn Söldnertum ist in Russland gesetzlich verboten, und bislang hat Moskau das Vorhandensein der Privatarmee Wagner, deren Männer überall dort auftauchen, wo es für das russische Militär nicht opportun ist – sei es die Ostukraine, Syrien oder der Libyen –, auch stets dementiert.

Doch noch heikler ist es, wenn die Vorwürfe von Alexander Lukaschenko stimmen. Der wies die Theorie eines Transits als "Lüge" zurück und warf seinem Bündnispartner Einmischung in die inneren Angelegenheiten vor.

Unmut im Kreml über Minsk

Ganz aus der Luft gegriffen ist das Szenario nicht. Lukaschenko gilt wegen seiner Schaukelpolitik als schwieriger Partner in Moskau. Einerseits fordert er billige Rohstoffpreise, andererseits umkurvte er in der Vergangenheit geschickt die politischen Forderungen, die Moskau damit verknüpfen wollte – sei es die Anerkennung der Krim als russisch, Abchasiens und Südossetiens als unabhängig oder der russischen Gegensanktionen als gültig.

Minsk hat jahrelang glänzend am "Export von belarussischen" Krabben, Parmesan und Südfrüchten verdient, nachdem Russland ein Lebensmittelembargo gegen den Westen verhängt hatte.

Zu dem Unmut gesellten sich politische Ambitionen in Moskau. Lange Zeit galt eine Vereinigung von Russland und Belarus in kremlnahen Kreisen als Idealvariante für eine Verlängerung der Amtszeit von Wladimir Putin. Weil Lukaschenko bei dem Szenario nicht mitspielen wollte, musste in Moskau das Skript mit dem Referendum zur Annullierung der bisherigen Amtszeiten Putins eilig umgeschrieben werden.

Zweifelhafte Andeutungen

Doch eben deswegen sind Lukaschenkos Andeutungen, der Kreml ziele auf eine Eskalation der Lage in Belarus hin, um sich seinen Nachbarn einzuverleiben, nun zumindest zweifelhaft. Putin hat seine Herrschaft durch das Referendum bis 2036 abgesichert, politische Dividenden aus einem Anschluss von Belarus sind zwar möglich, die wirtschaftlichen Gefahren aber deutlich größer. Schon jetzt leidet Russland schwer unter dem Sanktionsdruck.

Ein Coup wie auf der Krim ist daher ein Vabanquespiel. Zumal: So unangenehm Lukaschenko auch ist, in Moskau weiß man, was man an ihm hat. Ein demokratisch erfochtener Sieg eines Oppositionskandidaten hingegen könnte eine unerwünschte Signalwirkung haben. Das beste Szenario für Moskau wäre daher ein am Ende zum Sieger erklärter, aber deutlich geschwächter Lukaschenko in Minsk. Mit dem ließe sich dann auch deutlich leichter verhandeln.

Am Freitag jedenfalls haben Alexander Lukaschenko und Russlands Präsident Wladimir Putin miteinander telefoniert und zwei Tage vor der Wahl einander versichert, dass die Spannungen rund um die 33 Inhaftierten gelöst werden könnten.

International treten Politiker dafür ein, die Gefangenen freizulassen. Auch Josep Borell, seit dem 1. Dezember 2019 Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, verlangte am Freitag die Freilassung. Mit großer Sorge sieht Europa auch der Wahl entgegen, die am Sonntag stattfindet. Deutschland, Frankreich und Polen formulierten am Freitag in einem gemeinsam veröffentlichten Statement ihre "große Sorge" und forderten eine freie und faire Wahl. (red, André Ballin aus Moskau, 6.8.2020)