"Dämmerung": Die Tücken der künstlichen Evolution

Jérémy Perrodeau: "Dämmerung"
144 Seiten / 32 Euro
Edition Moderne 2020

"Habe pflanzliche Kontamination festgestellt", funkt Parkwächter Lincoln an die Raumstation Grand Central. Was am Anfang als rätselhaftes Phänomen erscheint – aus Bäumen und Pflanzen in dem dicht bewaldeten Gebiet dringen seltsam geometrische Formen hervor, die nichts mehr mit Natur zu tun haben scheinen –, entpuppt sich wenig später als eine Katastrophe epischen Ausmaßes. Schließlich ist Lincoln der scheinbar einzige menschliche Abkömmling auf einem Laborplaneten, auf dem Wissenschafter*innen die biologische Evolution im Schnelldurchlauf imitieren und so erforschen wollen. Doch etwas, das weit in mythische Urzeiten des Planeten zurückreicht und offenbar irgendetwas mit seiner Konstellation im Universum zu tun hat, ist aus dem Ruder gelaufen. Ein Rettungsteam macht sich auf den Weg, um nur selbst immer tiefer in kaum erklärliche Vorgänge hineingezogen werden.

"Dämmerung" ist ein packender SF-Psychothriller, der Grenzen von Raum und Zeit verzerrt und doch eine Kontinuität des humanen Prinzips erkennen lässt, in dem selbst Roboter über Gefühle philosophieren – da mag die Umgebung noch so unwirtlich und denaturiert sein. Der Franzose Jeremy Perrodeau entwirft in dieser grafisch wie erzählerisch ausgeklügelten Suspense-Story bizarre Landschaften, in der eine abgründige Symbiose von Natur und Technologie entsteht. Und die wirkt gerade deshalb so gruselig, weil die Menschheit, so weiterentwickelt sie in diesem fernen Setting auch ist, darauf keinen Einfluss mehr hat.

Je nach Erzählebene sind die oft wortkargen, in minutiösen Variationen komponierten Seiten in Feuerrot, Dottergelb und Gletschertürkis eingefärbt. Die Figuren, deren Gesichter stets unbestimmt bleiben und deren Bemühungen so oft ins Leere gehen, könnten einem Andrei-Tarkowski-Film entsprungen sein, und doch wirkt dieses Buch in seiner in jeder Hinsicht stimmigen Inszenierung kein bisschen verstaubt – ganz im Gegenteil: Großes Weltraumkino!

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"Unfollow": Im Dauer-Livestream gegen den Öko-Kollaps

Lukas Jüliger: "Unfollow"
168 Seiten / 18 Euro
Reprodukt 2020

Ganz auf der hiesigen Erde bleibt hingegen "Unfollow", der neue Geniestreich des jungen deutschen Comickünstlers Lukas Jüliger. Und dennoch hat das Buch einen ähnlichen Grundtenor wie "Dämmerung", nämlich indem es sich fragt, was passiert, wenn Natur und Technik miteinander eine verschworene Gemeinschaft eingehen. Oder in den Worten von Jüliger in einem Interview: "Was würde die Natur tun, wenn sie eine Stimme und verifizierte Social-Media-Accounts hätte?" Eine zusätzliche Parallele ist, dass Jüliger seine Seiten in Farbtöne taucht, die zwischen blassem Lehmrot und Nachtblau changieren – auch um hervorzustreichen, dass sich das Geschehen in einer Art globalem Dämmerungszustand abspielt. Die ökologische Katastrophe ist zum Greifen nah.

Und doch geht es hier um weit mehr als die Klimakrise. Die Graphic Novel beginnt damit, dass ein namenloser Junge auftaucht, der ein menschgewordenes Bewusstsein der Erde zu verkörpern scheint. Der Schnitt vom allwissenden Urkeim zur Mittelklassekindheit ist dementsprechend hart. Doch ein bestimmter Geruch, dem er sich ähnlich wie einer Droge hingibt, lässt nach wie vor eine direkte Verbindung mit der Natur zu. Er beschließt, als Earthboi bzw. @realearthboi mit der Welt in Kontakt zu treten und sein Wissen weiterzugeben. An einem Ort fernab der Zivilisation geht er online und dokumentiert fortan sein Leben in Symbiose mit der Natur, mit Solarpanels, Pilzkulturen, sonstigen "nature hacks" und Tricks für eine "assistierte Evolution".

Es dauert nicht lange, bis ein immenser Personenkult um den messiasgleichen Öko-Influencer entsteht. Im Dauerlivestream mit seinen Followern entwirft er eine App und einen Supersmoothie, der konventionelle Ernährung ersetzt – mit weiter steigendem Erfolg.

Doch das ist erst der Anfang dieser ungewöhnlichen Story, die punktgenau den Zeitgeist einer Generation trifft, die Youtube und Instagram genauso wie einen nachhaltigen Lifestyle quasi in ihrer kollektiven DNA hat. Mit bemerkenswertem Gespür bringt "Unfollow" immer neue Wendungen in die Geschichte – die im Übrigen komplett ohne Sprechblasen auskommt und aus dem Off von einer ominösen Gruppe, den "Wurzeln", erzählt wird. Bis es zu einem, äh, überraschenden Showdown kommt, der es in sich hat. Ein wunderschön gestaltetes Kultbuch, in seinem durchdringenden Blick auf die Irreführungen einer Welt im Umbruch so gegenwärtig, wie es nur sein kann.

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"Wir gehören dem Land": Im Trauma des indigenen Kanada

Joe Sacco: "Wir gehören dem Land"
256 Seiten / 25 Euro
Edition Moderne 2020

Jagen, Fallenstellen, Kanus aus Baumstämmen zimmern und mit Elchleder beziehen, Fische trocknen und mit voll bepackten Schlittenhunden durch eiskalte Schneewüsten ziehen: Das Leben der Nomadenvölker der Dene – die Nachkommen der Ureinwohner*innen Kanadas – war von der Natur, den Tieren und dem gemeinschaftlichen Zusammenleben bestimmt.

Heute ragen Öltürme aus dem Eis, Rohre schlängeln sich durch die Wälder, und Lkws rutschen über die Winterstraße, die durch das Tal des Mackenzie River führt und nur bei gänzlich gefrorenem Boden befahrbar ist. In seinem neuesten Werk macht sich der einflussreiche US-amerikanische Comicjournalist Joe Sacco, der seit den 1990ern die Welt bereist und aus Krisen- und Kriegsgebieten berichtet, mit seiner Begleiterin, der Umweltaktivistin Shauna Morgan, auf, um in den abgelegenen Nordwestterritorien einem lang schwelenden Konflikt nachzugehen.

Seit der Entdeckung von Gold-, Öl- und Gasvorkommen Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Dene-Stämme Opfer einer beispiellosen Ausbeutungspolitik. "Das Land gehört nicht uns, wir gehören dem Land", zitiert Sacco das grundlegend andere Verständnis der indigenen Völker. Doch den Dene wurden nicht nur fragwürdige Abkommen über Landnutzungs- und Abbaurechte aufgedrängt. Eine Methode der Kolonialisten bestand darin, Kinder per Flugzeug abzuholen und, von ihren Familien getrennt, in erzkatholischen Internaten unterzubringen, ihnen ihre Sprache zu verbieten und sie ihrer "wilden" Kultur zu entfremden – ein Vorgehen, das bis in die 1990er-Jahre praktiziert wurde und 2009 von einer kanadische Untersuchungskommission als "kultureller Genozid" bezeichnet wurde.

Die Folgen waren verheerend. Der Zwang in die Sesshaftigkeit und Niedergang der vergleichsweise teuren Ölförderung führten zu massivem Alkohol- und Drogenmissbrauch und einer gespaltenen Gesellschaft, die förmlich den Boden unter ihren Füßen verloren hat. Die Kinder kehrten zum Teil stark traumatisiert aus den Internaten zurück, in denen Gewalt und Missbrauch an der Tagesordnung waren.

Sacco, der sich wie immer aktiv in die Erzählung einbringt, spricht mit Stammesältesten, politischen Aktivisten unter den Dene, Befürwortern und Gegnern der Rohstoffindustrie – die praktisch die einzige Einnahmequelle ist – und über das naturnahe Leben, zu dem so mancher gerne wieder zurückkehren möchte. Auf 260 schwarz-weiß schraffierten, kunstvoll arrangierten Seiten spannt Sacco einen wenig bekannten Teil der kanadischen Geschichte auf, lässt sich tief ein in ein komplexes Geflecht aus wirtschaftlichen, politischen und sozialen Zusammenhängen – und gibt vor allem den betroffenen Menschen ein Gesicht und eine Stimme. Ein weiteres Glanzstück aus der Feder des Großmeisters der Comic-Reportage, aufwühlend, fordernd und nachwirkend.

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"Bezimena": Psychotrip durch die Augen eines Täters

Nina Bunjevac: "Bezimena"
224 Seiten / 30 Euro
Avant-Verlag 2020

Weit aufgerissene Augen, angstvoll, glasklar und unausweichlich: So starrt einen der jugendliche Benny an, seine zarten Gesichtszüge umrankt von den Blättern des Buschs, hinter dem er sich versteckt – um Frauen zu beobachten. Es ist dieser "male gaze", dem wir in Nina Bunjevacs in jeder Hinsicht umwerfenden Kunstwerk "Bezimena" folgen. Jedes Bild nimmt zumindest eine volle Seite ein, der Text befindet sich meist auf der gegenüberliegenden Seite.

Mit feinsten Schraffuren erschafft die jugoslawisch-kanadische Comiczeichnerin aus dem umgebenden Schwarz hyperrealistische Figuren und Szenarien mit atemberaubender Schärfe, alles getaucht in eine Film-Noir-Atmosphäre. Der Sonderling Benny, der als Zoowärter unbeobachtet seinen seit der Kindheit unterdrückten sexuellen Obsessionen nachgehen kann, entdeckt ein Skizzenbuch mit erotischen Zeichnungen, das eine von ihm begehrte Frau, in der er seine Kindheitsliebe erkennt, hinterlassen hat. Von da an verliert er sich in einer traumwandlerischen Halluzination, in der ein geheimer Plan seine innersten Wünsche wahr werden lässt.

Nina Bunjevacs, selbst Opfer sexuellen Missbrauchs, hat mit "Bezimena", was in den meisten slawischen Sprachen "namenlos" bedeutet, etwas extrem Mutiges gewagt: Sie kehrt die gewohnten Vorzeichen um und nimmt die verquere Perspektive eines offensichtlich pathologischen Täters ein. Sie führt uns in die Parallelwelt eines Menschen, dessen Kopfkino zu seiner eigenen Realität wird, der er nicht entkommen kann. Die wunderschön plastischen, zum Teil explizit sexuellen Zeichnungen machen das Ganze zu einer verstörenden Grenzerfahrung, die einen nicht so schnell loslässt. Eine Rahmenhandlung, die sich auf die griechische Sage von Artemis und Siproites bezieht, verleiht der Geschichte etwas Mythisches, sich ewig Wiederholenden, die andeutet, dass es kein Entrinnen gibt. Völlig zu Recht war das meisterhaft gestaltete Buch als Best Graphic Novel bei den im Juli vergebenen Eisner Awards – so etwas wie der Oscar für Comics – nominiert.

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"Vatermilch": Von der Champagnerdusche in die Gosse

Uli Oesterle: "Vatermilch 1: Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoss"
128 Seiten / 20,60 Euro
Carlsen-Verlag 2020

"Champagnerdusche mit Fotomodellen, Belugahäppchen und russische Eier, Havannas mit Hundertmarkscheinen entzünden, Stoffschneuztücher mit güldenem Monogramm, vierlagiges Klopapier ..." So beschreibt Rufus Himmelstoss seinen Lebensstil – seinen verlorenen, wohlgemerkt, denn den Ausschweifungen war ein tiefer Fall gefolgt, und russisch war dabei nur sein Abgang.

Doch selbst als Obdachloser bleibt er überheblich: "Nur Scheine" steht auf dem Schild, mit dem er sich Geld auf der Straße erbettelt. Im München des Jahres 1975 war er Teil der Schickeria gewesen, sein Zuhause war der legendäre Club Yellow Submarine, wo Haifische als Dekoration durch das riesige Aquarium schwammen, das die Räume umgab. Seine Lebensinhalte waren Koks, Frauen und schiefe Geschäfte – ganz abgesehen von rauen Mengen Alkohol. Für seine Frau und seinen Sohn war da, gelinde gesagt, wenig Platz. Nach einem folgenschweren Verkehrsunfall taucht Rufus Himmelstoss endgültig unter, wird immer unsichtbarer, bis sich seine Spur komplett verliert.

Der Comiczeichner Uli Oesterle nimmt diese Spur Jahrzehnte später wieder auf. In "Vatermilch" rekonstruiert er die Geschichte seines eigenen Vaters, der verschwand, als er neun Jahre alt war, und verarbeitet sie in einem vielschichtigen, auf vier Teile angelegten, Comicroman. Im heuer erschienenen und vielbeachteten ersten Teil macht er ein weites Feld auf: zwischen Seventies-Rausch und sozialem Abstieg, zwischen dem Unbehagen der eigenen Vaterrolle gegenüber und all den Selbstzweifeln und Identitätskrisen, die er dem Verlust des Vaters zuschreibt.

Was nach schwerer Kost klingt, liest sich zuweilen wie ein rasanter Krimi, dann wieder wie ein Psychodrama, bleibt dabei aber immer kurzweilig und unterhaltsam. Mit einer beeindruckenden Leichtigkeit verwebt Oesterle gekonnt die wechselnden Zeitebenen und Erzählperspektiven, und reflektiert zwischendrin das künstlerische Schaffen an sich. Entwaffnend persönlich, zeichnerisch imposant und spannungsgeladen in jeder Hinsicht – Fortsetzung folgt!

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(Karin Krichmayr, 20.8.2020)