Sucht die Nähe seiner Tochter: David Thewlis bleibt im schrillen "Guest of Honour" ein melancholischer Einzelgänger.

Foto: Filmladen

Trauer, Schuldgefühle oder die Unfähigkeit, einander auf Augenhöhe zu begegnen, sind in den Filmen von Atom Egoyan wiederkehrende Themen. In seinem neuen Film Guest of Honour kommt ein ausgeprägtes Fasziniertsein von Kaninchen hinzu. Nicht nur der Albino-Rammler Benjamin, den Jim (David Thewlis) für seine Tochter Veronica (Laysla De Oliveira) mit Hingabe umsorgt, ist prominent ins Bild gerückt. Auch Kaninchenkot kommt eine wichtige Rolle zu, die Ohren der Nager liegen irritierenderweise sogar ausgebacken als Delikatesse auf dem Teller.

Movie Coverage

Schon an dieser Lust an kleineren Übertretungen kann man ganz gut erkennen, dass Egoyan mit diesem Melodram zu einer gewissen Camp-Sensibilität gefunden hat. Die Ambiguität rührt daher, dass man nie genau weiß, wie ernst es ihm mit dieser Erzählung über eine mehr als problembeladene Vater-Tochter-Beziehung ist. Doch aus genau dieser Unbestimmbarkeit bezieht der Film auch einen gewissen Reiz: Den Kontrast aus einer überladenen, hakenschlagenden Handlung und den stilistischen Verzerrungen und Brüchen vermittelt Egoyan mit der Gelassenheit eines alten Meisters.

Schrullig und einsam

Der britische Charakterkopf David Thewlis verleiht dem Film als Einziger richtige Gravität. Sein Jim ist bereits tot, als der Film beginnt, in Rückblenden begegnen wir ihm vor allem bei seiner Arbeit als Lebensmittelkontrolleur, der in Restaurants unter Kochtische kriecht oder die Fleischtemperaturen misst. Er macht das mit der Akribie eines Wissenschafters, hartherzig wirkt er dabei nicht, eher schrullig und traurig. Das Beschäftigungsfeld wird auch zum Medium seiner Einsamkeit. Wer will schon mit einem solchen Pedanten abhängen?

Tochter Veronica definitiv nicht. Im Zwiegespräch mit einem Priester (Luke Wilson) erschließt sich nach und nach das vertrackte Verhältnis zu Jim, vom Krebstod der Mutter bis zum frühen Erfolg der Tochter als Komponistin. Wird Jims Leben als Solitär eher nüchtern erzählt, so übersetzt Egoyan Veronicas Eskapaden mehr im Modus einer Seifenoper im matt fließenden Licht. Bei einer Konzertreise gerät sie ins Zentrum eine Sexting-Affäre, die ihren Ruf beschädigt und hanebüchen doppeldeutig bleibt. Auf ziemlich spekulative Weise wird dies mit einem weiter zurückliegenden Ereignis verknüpft. Kurzum, Veronica scheint weit mehr Schuldgefühle mit sich herumzutragen als ihr Vater, der nie aufgehört hat, ihre Nähe zu suchen.

Kritik an schnellen Urteilen

Interessanter als diese kolportagehaften Verstrickungen sind aber die persönlicheren Elemente, mit denen der kanadische Regisseur dieser grellen Mixtur seinen Stempel aufdrückt. Die Erfahrung von Verlust oder an visuelle Technologien gebundene, entstellte Erinnerungen behandelte er schon in frühen Filmen wie The Adjuster (1991) oder Exotica (1994). In Guest of Honour finden sich darauf mehrere Echos, so beklagt Jim an einer Stelle, wie eilfertig sich eine Mediengesellschaft ihre Urteile bildet.

Nicht zuletzt geht es auch um die Erfahrung, sich als Fremder in einem anderen Land zu behaupten. Die Restaurants, die Jim besucht, geben ein Bild für die Diaspora in Kanada ab. Als Kontrolleur ist er, wiewohl selbst eingewandert, eine Bedrohung. Wenn er in einem armenischen Lokal dann zu Kaninchenohr empfangen wird, weiß er, was ihm fehlt: Familie. (Dominik Kamalzadeh, 7.8.2020)