Clemens Berger aus Oberwart hat an der Bowling State Green University in Ohio unterrichtet und dort mit Studierenden die Geschichte des Klimawandels erarbeitet.

Foto: Katharina Susewind

"Reisen mit Baby ist gar nicht so einfach", sagt der Schriftsteller Clemens Berger lachend am Telefon. Dass Interviews derzeit nicht vor Ort stattfinden, ist nicht ungewöhnlich. Wegen Corona konnte der Autor mit den burgenländischen Wurzeln – er ist in Oberwart aufgewachsen – sein "Stadtschreiber"-Stipendium im bayerischen Weißenburg erst mit Verspätung antreten.

Derzeit ist er dennoch viel unterwegs, und "zum Schreiben kommt er weniger", erzählt er. Zum Glück ist sein aktueller Roman gerade erschienen, der von einem Burgenland-Emigranten handelt, der über Umwege zum Klimaschutz kommt.

STANDARD: Ihr Roman "Der Präsident" erzählt von einem Polizisten namens Jay Immer, der in den 1980ern als Double von Ronald Reagan durch die USA tourt. Jay gab es wirklich. Er hieß Jay Koch. Wie sind Sie auf seine Lebensgeschichte gestoßen?

Clemens Berger: Ich war 2010 in den USA, um über ausgewanderte Burgenländerinnen und Burgenländer zu recherchieren. Dabei stieß ich auf erstaunliche Lebensgeschichten. Diese Menschen hatten eines gemeinsam: Sie waren Wirtschaftsflüchtlinge, wie man heute so despektierlich sagt. Die meisten lebten in sogenannten Parallelgesellschaften, heirateten untereinander, pflegten ihre Bräuche, taten sich mit der neuen Sprache schwer, schufteten und schickten Geld nach Hause, um ihre Familien zu unterstützen. In einer Randnotiz stieß ich auf Jay Koch. Seine Geschichte hat mich fasziniert: Ein Emigrantenkind wird zum Double Ronald Reagans, der von 1981 bis 1989 Präsident der Vereinigten Staaten war. Auf dem Rückflug nach Wien sah ich auf der Titelseite der Kronen Zeitung eine Schlagzeile über ein abgelehntes Asylwerberheim im Südburgenland, genau jener Gegend also, aus der seit dem 19. Jahrhundert viele Menschen in die USA emigrierten. Da wusste ich, dass ich die Geschichte dieses "Präsidenten" erzählen muss.

STANDARD: Jays Eltern lebten in New York, aber ihr Herz hing am Burgenland. Wie lässt sich dieses Festhalten an einer fernen Heimat erklären?

Berger: Weil dieser Ort erst in der Ferne und in der Erinnerung zur Heimat wurde. Je ferner der Herkunftsort ist, desto verklärter wird er. Diese Menschen haben Österreich und vorher Deutschwestungarn verlassen, weil es für sie keine Existenzgrundlage gab, also keine Arbeit und keinen Boden, den sie bewirtschaften konnten. Die meisten wollten später wieder zurückkehren, aber dazu kam es nur in den seltensten Fällen. Mit der Entfernung wurde für sie schließlich aus Oktoberfest, Schlagern und burgenländischem Ziehbrunnen ein merkwürdiges Amalgam, das sie Heimat nannten. Die Protagonisten meines Romans, Jay und Lucy, machen da allerdings nicht mit.

STANDARD: Warum beschäftigt Sie das Thema Auswanderung so intensiv?

Berger: Ich komme aus dem Burgenland, und beinahe jede burgenländische Familie hat Verwandte in den USA. Bei mir war das Tante Wilma, die ich nur von Fotos und aus Erzählungen kannte. Sie schickte mir zu Weihnachten immer Zehn- oder Zwanzigdollarscheine, und ich studierte dann aufgeregt den Wechselkurs im Teletext. Für mich lebte meine Verwandtschaft in einem fernen, glitzernden, vor allem wohlhabenden Land, das ich nur aus Fernsehserien wie Knight Rider kannte, in der David Hasselhoff als Michael Knight mit seinem Wunderauto K.I.T.T. gegen das Böse kämpfte. Ich fragte mich später, wie es ist, von einem kleinen Dorf, das mehr Tiere als Einwohner zählt, nach New York oder Chicago zu ziehen und das, ohne Hochdeutsch, geschweige denn Englisch zu können.

STANDARD: Wodurch unterscheidet sich der reale Jay von Ihrer Romanfigur?

Berger: Von Jay Koch habe ich bloß die Grundkonstellation übernommen: im Burgenland geboren, als Kind in die USA ausgewandert, Polizist, Reagan-Double, Auftritte in Filmen wie etwa Back to the Future II. Der Rest ist Jay Immer, eine Fantasie auf eine Biografie.

STANDARD: Würden Sie sagen, dass Ihre Romanfigur rebellischer ist als der reale Jay Koch?

Berger: Dass Jay zum "anderen Reagan" wird, passiert ihm eher zufällig, weil er sich über eine Ungerechtigkeit ärgert. Und er wird plötzlich von den Medien mit der Frage konfrontiert, wer er selbst ist. Dadurch kommt er an einen Punkt, an dem er sich fragen muss, wen er spielt, was sein Handeln zu bedeuten hat und vor allem welche Auswirkungen dieses Handeln hat.

STANDARD: Dann passiert etwas Erstaunliches.

Berger: Ja, allmählich beginnt Jay mit dem Präsidenten, den er ja nur spielt, zu hadern. Die Mehrheit der Menschen jubelt zwar, wenn Jay in seiner Rolle als Ronald Reagan ein neues Autohaus eröffnet, aber er wird dabei auch immer häufiger beschimpft. Also beginnt er darüber nachzudenken, was die Leute am "echten" Präsidenten stören könnte. Man darf nicht vergessen, es war Reagan, der den brutalen Neoliberalismus einläutete.

STANDARD: Ihr Romanheld Jay wird vom schlichten Kleinbürger zum rebellischen Aktivisten. Das ist eine ungewöhnliche Entwicklung, finden Sie nicht?

Berger: Obwohl Jay so gewöhnlich wirkt, ist er ein ausgesprochen ungewöhnlicher Mensch, weil er sich erlaubt, selbst zu denken. Als Emigrant will er außerdem, dass die Versprechungen der Vereinigten Staaten in Erfüllung gehen.

STANDARD: Gleichzeitig werden Jay die Gefahren, die vom Klimawandel ausgehen, langsam bewusst, obwohl er selbst zunächst über die heraufbeschworenen Untergangsszenarien lacht.

Berger: Am Beginn der 1980er wird in den USA der Klimawandel, wenn auch nur kurz, zu einem großen medialen Thema. Jay engagiert sich in diesem Kampf, während der echte Reagan auf Seiten der großen Industrien steht. Jay sorgt sich zunächst nur um sein privates Umfeld, denn Lucy, seine geliebte "First Lady", liegt so gerne in der Sonne. Jay fällt auf, dass es immer heißer wird. Zu einem späteren Zeitpunkt beginnt er sich auch Sorgen um den Planeten zu machen.

STANDARD: Klimaschutz funktioniert nur, wenn man sich einschränkt. Wie sehen Sie das?

Berger: Wirklicher Klimaschutz funktioniert nur, wenn man die großen Industrien einschränkt, das heißt, die Art des Wirtschaftens muss radikal verändert werden, denn die Klimakrise ist vor allem ein Produkt des Kapitalismus. Sich im persönlichen Bereich einzuschränken halte ich für richtig, aber man kann die Auswirkungen des Klimawandels nicht nur auf Privatpersonen abwälzen. Das Schlimme ist jedoch, dass die Ärmsten unter dem Klimawandel am meisten zu leiden haben, jene Menschen also, die man am allerwenigsten für diese Misere verantwortlich machen kann.

STANDARD: Sie haben an der Bowling Green State University in Ohio unterrichtet. Wie sehr hat Sie diese amerikanische Zeit geprägt?

Berger: "As Ohio goes, so goes the nation." Das war das Erste, was ich zu hören bekam. Ich habe es dort aber sehr genossen. Ich konnte in Ruhe schreiben, in meinem Seminar an der Universität mit jungen Menschen die Geschichte des Klimawandels studieren, und ich habe Freunde gefunden. Es war nur immer irrsinnig kalt. Also ging ich in die Sauna. Dort saßen alle voll bekleidet mit ihren Handys. Das war schon skurril.

STANDARD: Ronald Reagan ist 2004 gestorben, und heute haben die USA einen verhaltensauffällig gewordenen Präsidenten namens Donald Trump. Soziale Ungleichheiten treten mehr als je zuvor in Erscheinung. Wie nehmen Sie als Schriftsteller diese besorgniserregende Entwicklung wahr?

Berger: Ich verfolge diesen Wahnsinn aufmerksam. Derzeit regiert nicht mehr der Fürsprecher der großen Industrie Ronald Reagan, sondern ein Pate, der von seinen Untergebenen uneingeschränkte Loyalität einfordert. Die verheerenden Auswirkungen des Neoliberalismus, die mit Reagan und Thatcher ihren Anfang nahmen, sehen wir heute. Donald Trump kommt übrigens in meinem Roman vor, aber in einer Rolle, in der er sich nicht gern sieht: als jemand, der sich an der Nase herumführen lässt.

STANDARD: Schreiben ist über weite Strecken ein einsamer Prozess, der Ruhe erfordert. Nun sind Sie vor einem Jahr Vater einer Tochter geworden. Wie gehen Sie mit dieser neuen Lebenssituation um?

Berger: Ich komme derzeit weniger zum Schreiben und zum Durchschlafen, aber wenn ich schreibe, dann mit größerer Konzentration. Ich schreibe auch Briefe an meine Tochter Amalia. Sie hat mein Leben schlagartig verändert. Ich bin nicht mehr nur für mich selbst verantwortlich, aber es gibt nichts Wunderbareres, als gemeinsam mit Amalia die Welt zu entdecken. (Gerlinde Tamerl, 9.8.2020)