Möchte im Namen Walter Benjamins (1892–1940) möglichst aller Verfolgten gedenken: Louis Aliot, hier als Wahlwerber des RN in Perpignan.

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Fast scheint es, als hätten den Emigranten Walter Benjamin seine Verfolger doch noch eingeholt: nunmehr in Perpignan, der südfranzösischen Stadt nahe den Pyrenäen. Benjamin stand 1940 im Begriff, sich durch Spanien nach Portugal durchzuschlagen. Sein Ziel lautete: Amerika. Bekanntlich sollte es dazu nicht mehr kommen. Der Philosoph nahm sich in der Nacht vom 26. auf den 27. September, eingeschüchtert und um der Nachstellung durch die Nazi-Häscher zu entgehen, in Portbou das Leben.

Durch das malerische Perpignan aber weht seit neuestem wieder ein stramm rechter Wind. Seit Juni 2020 wird die Pyrenäenstadt von einem Bürgermeister des rechtsextremen "Rassemblement National" (RN) regiert, Louis Aliot mit Namen.

Dieser überaus enge Parteifreund von Marine Le Pen wirft sich ausgerechnet für den jüdischen Flüchtling Benjamin mit großer Verve in die Bresche. Aliot möchte bereits im kommenden Jahr ein Kunst- und Kulturzentrum wiederbeleben, das seit 2013 Benjamins Namen trägt; zuletzt war das Institut für zeitgenössische Künste in einen tiefen Dornröschenschlaf gefallen.

Die Initiative nimmt sich aus dem Mund eines rechtsextremen Stadtvaters reichlich frivol aus. Aliot beabsichtigt, das Zentrum in eine Gedenkstätte für Verfolgte, Arme und Schwache zu transformieren. Nicht nur jüdischer Emigranten soll in Perpignan fortan ehrend gedacht werden. Auch Roma und Sinti und versprengte spanische Republikaner werden sich laut Ankündigung der posthumen Protektion durch Monsieur Aliot erfreuen dürfen.

Symbolische Operation

Die symbolische Operation am erduldeten Leid anderer hinterlässt schon deshalb einen Nachgeschmack, weil der RN niemals müde wird, Migranten und Ausländer für die innenpolitischen Kalamitäten Frankreichs verantwortlich zu machen: mit Fetzen von Empörungsschaum vor dem Mund. Man nennt die Strategie, deren sich Aliot befleißigt, daher auch "dédiabolisation": Die Hetzer von gestern werben heute mit blütenweißen Hemdsärmeln um Anerkennung. Ausgerechnet der jüdisch-marxistische Einzelgänger Benjamin soll als symbolische Spareinlage auf dem virtuellen Gutmenschenkonto des RN herhalten.

Die Proteste ließen denn auch nicht lange auf sich warten. In einem offenen Brief in Le Monde verbaten sich rund 30 prominente Kultur- und Geistesschaffende Aliots Ansinnen brüsk. In den Augen Étienne Balibars, Michael Löwys, Natacha Isaevas oder Paul B. Preciados wird Benjamin neuerlich zur Beute: zur "Trophäe" in einem Reinwaschungsprozess, der nichts anderem dient als der "Entdämonisierung" jener, die sich früher einmal "Front National" nannten und heute kein Wässerchen trüben.

Walter Benjamin schrieb in "Über den Begriff der Geschichte" (1940): "Auch die Toten werden, vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört." Dem Denker einer "Dialektik im Stillstand" schien die Verschränkung von Kultur und Barbarei unaufhebbar. Sein fortgesetztes Plädoyer für die Namenlosen und Schwachen geschah im Zeichen einer Geschichtsauffassung, die messianisch inspiriert war, aber letztlich – zumal unter dem Eindruck des faschistischen Siegeszuges – untröstlich blieb: "Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die jemals gesiegt haben..."

Geharnischte Kritik

Einer "neuen Schändung und Verfolgung" von Benjamins Person komme das Engagement der Stadtväter von Perpignan gleich: Derart geharnischt ließ sich unlängst auch Jeanine Meerapfel vernehmen, Präsidentin der Berliner Akademie der Künste, in dieser Eigenschaft auch Schirmherrin des Berliner Walter-Benjamin-Archivs. Prompt meldeten sich Stimmen, die Meerapfels Reaktion für überzogen hielten. Merkwürdiges Argument in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": Antonio Gramsci, italienisch-kommunistischer Denker des "Hegemonie"-Begriffs, würde schließlich auch von den neuen Rechten als Gewährsmann strapaziert. Umgekehrt könnten sich gestandene Linke an Ernst Jünger oder Carl Schmitt kaum satt lesen. Fast wähnt man, Louis Aliot hätte sich selbst eine Art Bildungsprogramm verabreicht.

Doch das Fortwirken unheilvoller Kontinuitäten, ob nun populistisch abgemildert oder mit dem Mäntelchen der Kunstbeflissenheit behängt, hätte womöglich Benjamins Entsetzen hervorgerufen. Gewundert hätte er sich, der das Rettende im Unheilvollen häufig vergeblich suchte, eher nicht. (Ronald Pohl, 9.8.2020)