Auf dem ersten Video, das ich auf Tiktok sehe, tanzt eine junge blonde Frau mit kreisenden Hüftbewegungen durch ein Zimmer und wackelt mit dem Popsch. Dann dreht sich die Kamera. Ein nicht ganz so hübscher Typ kommt in den Raum, schaut, bleibt stehen, auch die Musik stoppt, eine flirrende Stimme murmelt auf der Tonspur irgendwas mit "haram", dann schmeißt der Kerl einen weiß-blauen Badeschlapfen nach der Frau.

Auf dem zweiten Video springt eine andere Frau artistisch auf den Rücken eines Muskelprotzes und bleibt darauf stehen.

Auf dem dritten Video fragt ein Typ am Steuer seines Mercedes die Spracherkennung: "Wie findest du BMW?", und die Stimme im Auto antwortet: "Sehen ganz nett aus. Aber nur in meinem Rückspiegel."

Auf dem vierten Video füllt ein Jugendlicher zu Shakiras Waka Waka Wasser in ein Kuvert und schreibt Afrika vorn drauf.

Auf dem fünften Video tanzt ein Mensch mit Trisomie fröhlich vor sich hin.

screenshot: christoph wagner

Erst einmal gerade hinsetzen.

Alle reden derzeit über Tiktok. Donald Trump will mit einer neuen Verfügung den Verkauf des amerikanischen Geschäfts der beliebten chinesischen Video-App erzwingen, inoffiziell wohl, weil viele User sich darüber zusammenschlossen und im Februar eine seiner Wahlkampfveranstaltungen ins Lächerliche zogen, offiziell, weil er denkt, die chinesische App würde für die chinesische Regierung spionieren. Ein paar Tage davor wurden zwei ägyptische Tiktok-Stars zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil ihre Videos "unschicklich" waren und gegen "familiäre Werte" verstießen. Und in Österreich wurde man spätestens darauf aufmerksam, als die App mit Sebastian-Kurz-Content geflutet wurde und "Sebastian Short", wie er dort genannt wird, als Sexsymbol zeigte.

Tiktok, das ist für Menschen wie mich, also Menschen, die tatsächlich noch auf Facebook sind, eine Achterbahn. Es ist bunt, es ist laut, es ist schrill und verdammt schnell. Besser gesagt sind es die User, die meisten davon unter 24, die hier die Inhalte machen. Die meisten singen und tanzen, machen Witze, sind kreativ, ein paar drehen durch, ein paar benehmen sich daneben. Das alles in Video-Clips, die maximal eine Minute lang dauern, und mit einem Wischen ist schon ein neuer da. Der Algorithmus bestimmt, was wir als Nächstes sehen. Die Nutzer können dabei, und das ist das größte Asset, für ihre Inhalte auf eine riesige Sound-Bibliothek zurückgreifen. Auf Lieder, Stimmen, Poiiingsss und Pengs. Auf Tiktok ist immer was los. Und es wirkt viel dynamischer als alles, was wir bis jetzt in sozialen Netzwerken sonst so kannten.

Menschen sind eigenartig

Montagabend, ich sitze auf der Couch, vor mir im Privatfernsehen tanzen acht erwachsene Männer in roten Badeanzügen und Perücken zum Baywatch-Titelsong I’ll be ready. Als sie die Bühne verlassen, kommen Erkan und Stefan, Humor der Generation Stefan Raab, und erzählen einen Witz. Ich tippe in der Tiktok-App auf den Home-Button, ein neues Video, eine Frau hat sich als Fabelkriegerin verkleidet, steht vor einem Ventilator, schwingt ein riesiges Plastikschwert und bewegt ihre Lippen zu einem Rachel-Platten-Song:

This is my fight song

Take back my life song

Prove I’m alright song.

Ich lerne: Humor ist nicht selten plattformunabhängig.

Begonnen hat alles damit, dass ich "julia unicorn 07" kennenlernte. Sie hat eine Bewertung geschrieben, die mir auf der Downloadseite im Appstore als Erstes angezeigt wurde. Sie gab fünf Sterne, schrieb aber: "Tiktok ist echt cool, aber es wäre super, wenn es nicht so viele Hater gäbe."

Es ist halb zehn vorbei, und in der ersten Stunde ist eigentlich nicht viel passiert, was man zwingend passieren nennen müsste. Ich habe noch keine Hater gesehen, bin aber bei einem Hashtag hängengeblieben. Er heißt "heystop", reingezogen hat mich ein Golden Retriever, der sich beherrschen muss, ein Blatt Schinken zu fressen. Meinem Hund ist Schinken eigentlich nie egal, aber er legt sich jetzt trotzdem ein Stück weg. Was komisch ist, weil dieser Hund bei Kriegsdokus schläft, auf Partys wegpennt, sogar die Feuerwerke zu Silvester sind ihm schnurz. Das Einzige, was ihn wachhält: das Geräusch, wenn sich der Kühlschrank öffnet – und seit heute Tiktok.

Kein Wunder, rein akustisch schaue ich mir seit einer Stunde dasselbe Video an. Zu dem Lied Uptown Funk vereisen die Menschen, wenn "hey, hey, hey, ohhh stop" gesungen wird. Dann ist ein paar Sekunden Stille, nichts bewegt sich, bis der anderen Person (oder dem Tier) beim Textteil "Wait a minute" irgend etwas passiert. Der Hund bekommt den Schinken, ein Mensch Wasser ins Gesicht gespritzt, oder es wird irgendwas unnötig kaputtgemacht. Ein Kopfhörerkabel durchgeschnitten, zum Beispiel, oder ein iPhone aus der Hand geschlagen. Warum auch immer.

Ich lerne: Hunde sind eigenartig, Menschen aber auch.

Als Erstes wollte ich mir auf Tiktok natürlich einen Feed aufbauen, wie sonst etwas mitkriegen von dieser Welt? Aber das braucht man nicht. Hier ist man sofort mittendrin, ohne irgendwas zu tun. Ich bekomme ständig neue Clips reingespielt, werde gefüttert, beschäftigt. Der Algorithmus arbeitet, ich mache mit. Aber auch nach ein paar Stunden weiß ich immer noch nicht annähernd: Wer hat hier was zu sagen? Und: Gibt es hier überhaupt jemanden mit Sendungsbewusstsein?

screenshot: christoph wagner

Viel habe ich bis jetzt davon jedenfalls nicht bemerkt. Mit den großen Themen, nennen wir es aus nachrichtlicher Sicht, ist das ja auf Tiktok so eine Sache. Die einzigen zwei Dinge, die ich vor dem Trump-und-Kurz-Zeug von dieser App mitbekommen habe, war, dass die Tagesschau auch einen Account hat (und das wegen öffentlich-rechtlich nicht jeder so gut findet) und Laura Sophie. Laura Sophie (18) aus München tanzt nämlich für ihre zwei Millionen Follower ganz gern. Im Jänner hat sie aber versucht zu erklären, wie das jetzt so ist mit dem Iran. Und Amerika. Und der Nato.

Um es kurz zu machen: Laura Sophie kann zwar ganz gut tanzen, vom Iran und allem drumherum hat sie aber keine Ahnung. Es war Grund genug, um die – in wiederkehrenden Abständen wiederkehrende – Diskussion über den Einfluss und die Relevanz von sozialen Netzwerken auf Jugendliche wiederaufpoppen zu lassen. Große Analyseversuche wie jene von Laura Sophie habe ich bis jetzt noch nicht gesehen. Eher im Gegenteil: Ich liege schon im Bett, das Handy steckt am Strom, ein letztes Mal Tiktok für heute: Ein blondes Mädchen hüpft durchs Bild. Im Hintergrund läuft Sprechgesang:

Is your best friend really hot and you are

really really not?

Do you feel insecure when you are around her?

Do you go to parties and she gets all the guys?

Is your best friend really hot?

Irgendwann zieht die Blonde eine noch Blondere ins Bild, die mit ihren Händen zeigt: No, no, no, ich bin doch nicht viel heißer.

Ich lerne: Tanzen ist manchmal besser als reden. Auch wenn es Stuss ist.

#10FingerChallenge

Der nächste Tag. Auf Tiktok bekomme ich als Erstes eine Dunkelhaarige eingespielt, die über Trennungen singt. Ist mir zu depri, ich wische weiter. Ein anderes Mädchen steht in seinem Kinderzimmer, hält nur ein Handtuch vor seinen Körper, tut so, als wäre es darunter nackt. Weiter. Ein paar Sekunden später war ich zwar noch nicht einmal am Klo, weiß aber schon mehr über eine junge Deutsche als über viele meiner Freunde. Sie spielt das Spiel "mach einen Finger runter, wenn …" oder wie es richtig heißt: "#10FingerChallenge". Dabei geht es nur darum, seinen Followern ein bisschen mehr über sich zu verraten: Die Userin jedenfalls hat schon bei einem Test gespickt, war in mehr als drei Leute verliebt, hat schon mehr als fünf geküsst, hat sich schon einmal in einen Tiktok-Boy verguckt, bei dem sie sowieso keine Chance hat, aber dafür noch keinen Fünfer im Zeugnis. Am Ende stehen bei ihr drei Finger.

Ich lerne: Menschen interessieren sich für mehr Dinge, als man denkt.

Auf dem Weg zur Arbeit schaue ich mir endlich an, wer hier aller richtig groß ist. In Österreich ist das vor allem ein Typ, etwa Mitte 20, mit dem Künstlernamen Candy Ken. Wenn Kinder ihn auf der Straße sehen, rennen sie ihn vor Begeisterung fast über den Haufen. Er hat rund zehn Millionen Follower, ist ein Superstar. Ich habe noch nie von ihm gehört. Seine Videos sind bunt, laut und schrill. Er ist bunt, laut und schrill – jeder seiner Fingernägel hat eine andere Farbe. Im ersten Clip lässt er sich gerade unter viel Tamtam von seiner Mutter die neonrosa Haare abrasieren. In einem anderen hat er platinblonde Haare, zieht den Pulli aus – darunter hat er mit Frischhaltefolie tausende Dollar an den Körper gebunden.

"Zwischen Regenbogenshirt und Anzug liegen doch ein paar Follower."

Ich versuche auch während des Arbeitstags dabeizubleiben, aber ohne Ton ist das sehr mau. Ich wische trotzdem ein wenig, und während ich mit zwei anderen älteren Männern an einem Tisch sitze, taucht auf dem Bildschirm ein anderer älterer Mann auf. Es ist ein Typ, den ich gestern schon gesehen habe. Da ließ er sich bei der "Hey stop"-Challenge seine Krawatte mit einer Schere abschneiden. "Herranwalt" wie er sich nennt, ist anscheinend wirklich Jurist und klärt auf seinem Account (immerhin zwei Millionen Follower) im biederen Anzug, aber sehr zielgruppengerecht Fragen wie: Ist Fremdgehen in der Ehe strafbar? (Nein.) Oder: Darf mir der Bus vor der Nase wegfahren? (Es kommt darauf an.)

Ich lerne: Zwischen Regenbogenshirt und Anzug liegen doch ein paar Follower.

Es ist Abend geworden, und ich sitze wieder in der Straßenbahn. Fast ein Gefühl von Abschied. Ich schaue mir noch ein paar Candy-Ken-Videos an. In einem zerstört seine Mutter für einen Sketch ein relativ neues iPhone mit einem Nudelwalker. Klingt irre. Aber gestern habe ich bereits andere Influencer gesehen, die Kopfhörerkabel zerschneiden, um dann Bluetooth-Kopfhörer zu verschenken. Oder Handys aus der Hand schlagen, um sie dann mit neuen Modellen zu ersetzen. Es ist das letzte Video, das ich mir ansehe.

Ich erinnere mich, dass vor ein paar Jahren jemand ein Plakat von Lisa und Lena (beide 18), zwei deutschen Influencerinnen, die in einem Jugendmagazin abgebildet waren, spaßeshalber ins Büro gehängt hat. Sie waren Superstars auf Tiktok. Ende März 2019 löschten sie ihren Account. Sie sahen sich aus Tiktok herausgewachsen.

Ich lerne: Man sollte aufhören, wenn es genug ist. Aber: Soll ich auch?

(Christoph Wagner, 8.8.2020)