Normalität ist unspektakulär, aber das gehört ja auch so. Im "Haus Brigittenau", einem Wiener Pflegeheim mit 256 Bewohnern, schaut sie an einem Montagmorgen zum Beispiel so aus: Bewohner ziehen langsam durch die Gänge, sitzen in kleinen Gruppen herum. Ein freundlicher Pfleger teilt Klopapier aus, Angehörige kommen durch die Schiebetür. Das wäre alles nicht der Rede wert, wären diese Szenen der Normalität in den Wochen zuvor nicht unmöglich gewesen.

Die Maßnahmen im Wiener Pflegeheim "Haus Brigittenau" sind natürlich nicht vorbei, sie sind nur anders.
Foto: Heribert Corn

Alten- und Pflegeheime waren während der Corona-Hochphase im Frühjahr die wahrscheinlich empfindlichsten Stellen der Gesellschaft. Ihre Bewohner gehören per definitionem zur Risikogruppe. In Corona-Hotspots wie der Lombardei hatten Ausbrüche in Pflegeheimen schreckliche Folgen. In Österreich starben 260 Heimbewohner an Covid-19, das sind knapp 37 Prozent – wobei diese Gruppe auch in normalen Zeiten einen hohen Anteil unter den Sterbefällen hat. Nicht überall gelang es, Corona fernzuhalten. Aber unterm Strich verhinderten harte Maßnahmen wie ein wochenlanges Besuchsverbot Schlimmeres.

Die Maßnahmen sind natürlich nicht vorbei, sie sind nur anders. Die Situation im Haus Brigittenau, das zum städtischen Kuratorium Wiener Pensionisten-Wohnhäuser (KWP) gehört, ist alles andere als "normal-normal": Überall steht Desinfektionsmittel herum, Schilder weisen auf den Abstand hin, die Angehörigen tragen Masken. Die Bewohner werden regelmäßig durchgetestet, vor allem wenn sie auch ins Spital müssen. Es herrscht Alltag, aber nur so viel, wie eben möglich ist. Das wird auch noch eine Weile so bleiben.

Veränderungen

Foto: Heribert Corn

"Insgesamt hat das bei uns im Haus gut funktioniert", sagt Ernst Muck. Der 62-Jährige sitzt im Innenhof in der Sonne. Er sagt nicht viel, aber wenn, dann hat es Hand und Fuß. Muck hat einen wachen Geist, kriegt alles im Haus mit. Er habe sich gut informiert geführt. "Aber wir haben im Haus viele Demenzkranke, die haben sich natürlich hinten und vorne nicht ausgekannt." Das Leben war natürlich auch im Haus Brigittenau nicht dasselbe wie vorher. Der Speisesaal und der kleine Shop waren geschlossen, das Essen kam wochenlang aufs Zimmer. Die Bewohner durften in den Innenhof und auf die Terrasse, aber das Haus nicht verlassen. Aktivitäten wurden in Kleingruppen abgehalten. Jetzt ist das meiste wieder beim Alten, aber mit Vorsicht.

Vor allem das strikte Besuchsverbot wurde kontrovers aufgenommen. "Die Angehörigen waren da teilweise ärger als die Bewohner", sagt Ernestine Sedlaczek. Die 82-Jährige erzählt von Angehörigen, die im Haus angerufen und das Personal beschimpft hätten, und schüttelt heftig den Kopf. "Es ist, wie es ist. Du musst dich mit den Tatsachen abfinden."

Gewohnheiten

Es war nicht alles schlecht im Haus Brigittenau. Krisen schütteln Gewohnheiten durch. Oben auf der Sonnenterrasse begannen die Bewohner wieder mehr miteinander zu sprechen. "Der Kontakt war enger, man hat mehr geplaudert", sagt Sedlaczek. Nur der Abstand, der wurde auch dort nicht immer eingehalten. "Ich hab dann halt geschrien, ich war die Bissgurn von der Terrasse", sagt Sedlaczek, verzieht keine Miene und zündet sich eine Zigarette an.

Um Frau Sedlaczek und Herrn Muck braucht man sich keine Sorgen machen. Sie wussten, was passiert, waren vor und während Corona nicht einsam und sind es auch jetzt nicht. Aber vielleicht sitzen die Bewohner, die in der Zeit mehr mit der Einsamkeit zu kämpfen hatten, auch nicht am Montagmorgen im Innenhof und reden bereitwillig mit den Medien darüber.

Einsamkeit

Denn natürlich gibt es zahllose schlimme Geschichten. Von dementen Angehörigen, deren Zustand sich im Lockdown verschlimmerte. Von alten Menschen, die ohne ihre ohnehin wenigen Sozialkontakte noch weiter vereinsamten. Von Angehörigen, die sich von ihren sterbenden Verwandten nicht so verabschieden konnten, wie sie es gerne getan hätten. Eine generelle Aussage, in Österreichs Pflegeheimen seien Dinge "gut" oder "schlecht" gelaufen, lässt sich so einfach nicht treffen. Dafür war die Situation in den einzelnen Bundesländern, bei den einzelnen Trägern, in den einzelnen Heimen zu unterschiedlich.

Auf gewisse Weise hatten die Pflegeheime einen Vorsprung gegenüber dem Rest des Landes: In der Pflege lernt man vom ersten Tag, dass jede Körperflüssigkeit potenziell infektiös ist. Aber das hier war etwas anderes, auch das Personal hatte Angst. Mitarbeiter verfolgen die Nachrichten, sind auf Social Media. Sie haben nicht nur die Verantwortung für die Menschen in den Häusern, sondern vielleicht auch selbst Kinder und pflegebedürftige Eltern zu Hause. Die Situation war für niemanden einfach, und sie entspannt sich erst jetzt gerade.

Ernestine Sedlaczek: "Wegen der Abstände bin ich manchmal zur Bissgurn geworden."
Foto: Heribert Corn

"Wir haben im Februar einen Krisenstab eingerichtet und uns sofort entschlossen, die jeweils stärksten Schutzmaßnahmen einzusetzen", sagt Gabriele Graumann, Geschäftsführerin des KWP. Sie sitzt in ihrem Büro und erzählt von vergangenen Wochen. Von schwierigen Angehörigen ("Anfangs waren manchen unserer Schutzmaßnahmen zu streng, plötzlich waren sie nicht mehr streng genug"), von widersprüchlichen Ansagen aus den Krisenstäben. Von den Ängsten der Bewohner, der Mitarbeiter, der Angehören, die zu allem Überfluss auch nicht immer in dieselbe Richtung gingen.

Neue Fragen

Unterm Strich ist man im KWP stolz darauf, wie die Krise gemeistert wurde. Das heißt natürlich nicht, dass alles perfekt gelaufen ist, wie auch. Es kam vereinzelt zu Diebstahl von Schutzausrüstungen ("Wir hatten nie einen Mangel, aber es hat gedauert, bis das bei allen Mitarbeitern angekommen ist"), auch in der Kommunikation hat man einiges gelernt. Das KWP hat einen Bericht verfasst, was man in einer vergleichbaren Situation besser machen will. Die Klagen aus dem Pflegebereich ähneln sich stark: Man sei während der Corona-Krise viel zu stark auf sich allein gestellt gewesen, haben mit unverbindlichen Empfehlungen und mangelnder Rechtssicherheit arbeiten müssen.

Für die Pflege werfen die vergangenen Monate schwierige und unangenehme Diskussionen auf. "Was bedeuten die Maßnahmen für die Zukunft?", sagt Graumann. In den in den Einrichtungen des KWP gibt es jährlich etwa 100 Grippetote, an Covid-19 sind 32 Menschen verstorben. "Wenn die Besuchsverbote richtig waren, braucht es sie dann auch in der Grippesaison?"

Und natürlich berührt das alles auch die Frage nach Grundrechten und dem Maß an persönlichem Risiko, das eine Gesellschaft ihren Risikogruppen zugestehen will. Der Wunsch, alte Menschen möglichst selbstbestimmt leben zu lassen, beißt sich naturgemäß mit dem Wunsch nach Sicherheit. Jetzt, wo langsam wieder so etwas wie Normalität einkehrt, können viele dieser Debatten erst beginnen. "Ich habe keine Ahnung, wohin die Reise geht", sagt Graumann. "Aber wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen." (Jonas Vogt, 8.8.2020)