Russische Spezialisten suchen drei Tage nach der Explosion im Hafen von Beirut nach Opfern der Katastrophe. Noch immer werden zahlreiche Menschen vermisst.

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Auch drei Tage nach der massiven Explosion in Beiruts Hafen sind mehr Fragen offen als Antworten auf dem Tisch. Während die Zahl der Todesopfer am Freitag auf nunmehr 154 stieg, schürte der libanesische Staatspräsident Spekulationen über die Ursache der Katastrophe.

Es werde untersucht, ob Schlamperei oder ein Unfall zu der Explosion führte oder ob diese von außen herbeigeführt wurde. "Der Grund ist bisher noch nicht festgestellt worden. Es besteht die Möglichkeit einer Einflussnahme von außen, durch eine Rakete oder Bombe oder eine andere Aktion", erklärte Michel Aoun.

Am Dienstag war ein Lagerhaus in die Luft geflogen. Hier dürften seit sechs Jahren 2.750 Tonnen hochbrisantes Ammoniumnitrat unsachgemäß gelagert worden sein, das auf einem unter moldauischer Flagge fahrenden Frachtschiff beschlagnahmt worden war. Die Behörden haben mittlerweile den Chef und mehrere Mitarbeiter des Hafens festgenommen. Vier ehemalige Regierungschefs und auch der Führer der Drusen, Walid Joumblatt, forderten eine unabhängige internationale Untersuchung der Hintergründe des Desasters. Bahaa Hariri, der Bruder des Ex-Ministerpräsidenten Saad Hariri, erklärte gegenüber Medien, dass der Hafen unter der Kontrolle der schiitischen Hisbollah-Milizen gestanden sei: "Nichts kommt im Hafen oder im Flughafen ohne ihr Wissen herein oder hinaus", sagte Hariri.

Tränengas gegen Proteste

Während der Präsident über einen Anschlag spekuliert, sehen viele Libanesen die Schuld an der Katastrophe bei der Regierung. In der Nacht auf Freitag ging die Polizei mit Tränengas gegen aufgebrachte Demonstranten vor, mehrere Menschen wurden dabei verletzt. Schon vor der Explosionskatastrophe protestierten immer wieder Menschen gegen die Regierung, der sie Korruption und Inkompetenz vorwerfen. Für das Wochenende wurden weitere Proteste erwartet.

Das Land ist inmitten einer massiven Wirtschaftskrise, die durch die Corona-Pandemie nur noch verschärft wurde. Am Donnerstag hatten wütende Einwohner Beiruts den französischen Präsidenten aufgefordert, sie gegen ihre korrupte Führung zu unterstützen. Emmanuel Macron war in den Libanon gereist, um sich vor Ort ein Bild von der Lage in dem Land zu machen, zu dem Paris enge Beziehungen pflegt. Er predigte in der Folge der libanesischen Regierung ins Gewissen und mahnte die Verantwortlichen, ihre "historische Verantwortung" wahrzunehmen, um die "politische, moralische, wirtschaftliche und finanzielle Krise" zu bewältigen. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) will für finanzielle Hilfen Reformen sehen. An einer von Frankreich organisierten internationalen Videokonferenz am Sonntag nimmt auch EU-Ratspräsident Charles Michel teil. Dabei sollen Mittel für die akute Nothilfe gesammelt werden. Eine weitere Geberkonferenz für den Wiederaufbau der zerstörten Stadtviertel soll zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden.

Michel und auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen haben bereits die nationalen Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten zur Unterstützung des Libanon aufgerufen. Der Ratspräsident reist noch am Samstag zu Gesprächen mit Aoun und Ministerpräsident Hasan Diab nach Beirut. Am Sonntag nimmt er an der von Frankreich organisierten internationalen Geberkonferenz teil. US-Präsident Donald Trump und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron telefonierten am Freitag zu der Causa und besprachen die Entsendung sofortiger Hilfe.

Bundesheer auf Abruf

Die internationalen Hilfsmaßnahmen gestalten sich schwierig. Jegliche Güter müssen eingeflogen werden, da mit dem Beiruter Hafen die wichtigste Infrastruktur für Importe nun ausfällt. Völlig zerstört wurde auch ein riesiger Getreidesilo, wo der Großteil der Vorräte des Libanon lagerte. Pläne, in Tripoli ein zweites Lager zu errichten, waren vor Jahren aus Liquiditätsmangel auf Eis gelegt worden. Nun droht im schlimmsten Fall eine Hungersnot.

Rund 250.000 Menschen, darunter auch 80.000 Kinder, haben durch die Explosion und die Druckwelle ihr Obdach verloren.

Eine Kompanie der Austrian Forces Disaster Relief Unit (AFDRU) aus dem ABC-Abwehrzentrum Korneuburg des österreichischen Bundesheers fliegt vorerst doch nicht in den Libanon. Das österreichische Verteidigungsministerium hatte dem Zentrum für die Koordination von Notfallmaßnahmen der Europäischen Kommission (ERCC) die Entsendung der Spezialisten angeboten, dies wurde aber noch nicht angenommen. (Michael Vosatka, 7.8.2020)